• Veröffentlichungsdatum : 15.10.2024

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ABC-Abwehr: Tränengas stört die Kampfführung

Erwin Richter

Zu Beginn des Jahres 2024 erschienen Medienberichte, wonach die Ukraine Russland „den gehäuften Einsatz von verbotenem Tränengas (…) vorwirft“, so Helene Dallinger im „Standard“ vom 14. Jänner 2024. Und weiter: „Seit Beginn des Krieges vor fast zwei Jahren seien 626 Fälle gezählt worden (…) In den ersten Jännertagen 2024 seien es 51 Fälle gewesen mit steigender Tendenz von bis zu zehn Angriffen am Tag.“ Im Mai berichtete „The New York Times“, dass die Ukraine seit Beginn des Krieges im Jahr 2022 mehr als 1 400 Chemiewaffeneinsätze zähle und dass sich diese vor allem seit den verstärkten offensiven Handlungen Russlands zu Beginn 2024 mehren. Ziel sei es, ukrainische Truppen aus ihren befestigten Stellungen zu verjagen und taktische Vorteile zu erzielen. Zumindest 500 ukrainische Soldaten mussten aufgrund der Vergiftungserscheinungen medizinisch behandelt werden, einer erlitt eine tödliche Vergiftung. Russische Truppen sollen Chlorpikrin, einen chemischen, bereits im Ersten Weltkrieg angewandten Kampfstoff und die Reizstoffe CS und CN (Tränengas) verwenden. Im Gegenzug wirft auch Russland der Ukraine vor, chemische Waffen einzusetzen. Beide Parteien weisen die Vorwürfe zurück.

Chlorpikrin ist ein in Liste 3 der Chemiewaffenkonvention aufgelisteter Lungenkampfstoff, der eingeatmet und unbehandelt nach mehreren Stunden zu einem toxischen Lungenödem führt. Die Reizstoffe CN und CS sind nicht in der Chemiewaffenkonvention aufgelistet und gelten als „Polizeiwaffen“ zur Kontrolle von Aufständen (Riot Control Agents). Dabei können betroffene Personen entfliehen, Soldaten in ihren Stellungen haben zumeist wenig Möglichkeiten, sich unter Feindbeschuss der Wirkung der Kampfstoffe zu entziehen. Ist man Tränengas ausgesetzt, führt dies zu heftigen Reizerscheinungen in Augen (Brennen, Tränenfluss, kurzzeitige Erblindung) und im Nasen- und Rachenraum (Husten, Brechreiz, Erstickungsgefühl), die zur Kampfunfähigkeit führen, in hohen Konzentrationen medizinische Behandlung erfordern und in geschlossenen Räumen sogar tödlich verlaufen können. Allein eine geeignete ABC-Schutzausrüstung bietet Schutz vor einer Vergiftung und garantiert die Aufrechterhaltung der Kampffähigkeit. Aufgrund ihrer Flüchtigkeit ist ein Nachweis schwer belegbar und obwohl Reizstoffe nicht in der Chemiewaffenkonvention aufgelistet sind, ist deren Anwendung als Kriegsmittel illegal, denn das „General Purpose Criterion“ der Konvention beinhaltet ein allgemeines Verbot von chemischen Stoffen zur Anwendung im Krieg. Folglich wäre dies eine Verletzung des Kriegsvölkerrechts (beide Kriegsparteien sind Mitglieder der Chemiewaffenkonvention).

Jeder Einsatz und jede Freisetzung von chemischen Kampf- und Gefahrstoffen, ob beabsichtigt oder nicht, zwingt Soldaten zum „Kampf unter ABC-Bedingungen“. Damit verbunden sind physiologische Effekte auf einzelne Soldaten: Das Tragen einer ABC-Schutzmaske und von ABC-Schutzbekleidung schränkt sämtliche Sinnes- und zahlreiche Körperfunktionen ein Beispielsweise wird das Sichtfeld drastisch verringert, die Kommunikation wird durch eingeschränktes Hör- und Sprechvermögen erschwert, die präzise Bedienung von Waffen und Gerät wird durch das Tragen von Schutzhandschuhen behindert, Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme ist kaum möglich, das Tragen von Schutzbekleidung führt zu Körpererwärmung, eingeschränkter Beweglichkeit und dergleichen mehr. 

Dazu kommen psychologische Effekte: die Angst vor dem „Unsichtbaren und Unbekannten“, die Frage, ob und wie lange man unter ABC-Bedingungen seinen Auftrag weiter erfüllen muss, die Ungewissheit, um welchen Kampfstoff es sich handelt, ob der ABC-Schutz hält, wann der nächste Angriff erfolgt und ob dieser rechtzeitig erkannt wird, ob nicht doch wirksamere chemische Kampfstoffe angewandt werden und etliches mehr. Auf Dauer kann dies zu Zermürbung und zum Brechen des Kampf- und Durchhaltewillens führen. Im Großen hat dies Auswirkungen auf die Kampfführung von Truppen (Feuer, Bewegung, Durchhaltevermögen, Kommunikation usw.). Hierzu finden sich kaum aufschlussreiche Studien — eine US-amerikanische aus den 1990er-Jahren kommt zu dem Schluss, dass derartigen Effekten nur durch gute Ausbildung, adäquate Ausrüstung und mit regelmäßigem Üben begegnet werden kann. 

All dies wiederum beweist, dass ein funktionierender ABC-Individual-schutz eine „conditio sine qua non“ ist. Der ABC-Individualschutz ist die Basis für alle ABC-Abwehrmaßnahmen. Mit der ABC-Individualschutzausrüstung und der diesbezüglichen Kenntnisse und Fähigkeiten, die in der Ausbildung vermittelt werden, gelingt es, ABC-Ereignisse zu überleben, deren Auswirkungen zu minimieren und den Auftrag für eine gewisse Zeit in einem kontaminierten Bereich weiter zu erfüllen. Dafür tragen die Kommandanten aller Ebenen Verantwortung.

Oberrat Oberst dhmfD Erwin Richter, MA; Leiter des Referates höhere Fachaus-bildung & Wissensmanagement an der ABC-Abwehrschule


Dieser Kommentar erschien im TRUPPENDIENST 3/2024 (399).

Zur Ausgabe 3/2024 (399)


 

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