Taktik: Forcierung von Wasserhindernissen
Wer taktische Handlungsmöglichkeiten eröffnen möchte, benötigt die Fähigkeit zum Forcieren von Wasserhindernissen. Dieser Umstand gilt im Speziellen für den europäischen Kontinent. Der Übungsgegner Rot verfügt über diese Fähigkeit und versteht darunter das angriffsweise Überqueren eines Gewässers, dessen gegenüberliegendes Ufer vom Feind verteidigt wird. Das Forcieren von Wasserhindernissen stellt für den Übungsgegner Rot eine taktische Aufgabe von höchster Komplexität dar. Charakteristisch für den Angriff über ein Wasserhindernis ist, dass zunächst ein Teil der Angriffskräfte das Wasserhindernis kämpfend überschreitet, einen Brückenkopf errichtet und diesen sukzessive mit weiteren Kräften verstärkt, während die verbleibenden Kräfte das Wasserhindernis überwinden. Ziel der forcierenden Kräfte ist es, die eigene Kampfkraft schneller auf das gegenüberliegende Ufer zu verlagern, als der Feind seine Kräfte für einen Gegenangriff konzentrieren kann.
Herausforderungen
Das Gelände in Europa ist aufgrund seiner Topographie und klimatischen Bedingungen von einer Vielzahl an Wasserhindernissen geprägt. Im Durchschnitt müssen angreifende Kräfte mit einem Wasserhindernis von bis zu 20 Meter Breite alle fünf bis zehn Kilometer und mit bis zu 100 Metern Breite alle 35 bis 100 Kilometer rechnen. Wasserhindernisse mit bis zu 300 Metern Breite prägen das Gelände alle 100 bis 150 Kilometer in Europa, während Gewässer über 300 Meter Breite alle 250 bis 300 Kilometer auftreten. Aufgrund dieser Geländeeigenschaften ist die Fähigkeit, Wasserhindernisse rasch zu überqueren und gleichzeitig die Kampfkraft und -dynamik aufrechtzuerhalten, für offensiv vorgehende Landstreitkräfte von entscheidender Bedeutung.
Wasserbauwerke an Gewässern (Wasserkraftwerke, Staudämme, Schleusen) ermöglichen einem Verteidiger eine schnelle Änderung des Wasserspiegels und erschweren dadurch dem Angreifer seine Überquerung. Ebenso beeinflussen die Wetterverhältnisse und die Jahreszeit den Wasserhaushalt der Gewässer. Vor allem an Flüssen in gebirgigen Regionen kann das Wetter zu einer raschen Änderung des Wasserstandes führen. Im Winter kann einerseits eine ausreichende Eisdicke ein Überqueren des Wasserhindernisses ermöglichen, andererseits können Hochwässer und starker Eisgang ein amphibisches Überqueren und den Einsatz von Übersetzmitteln der Pioniertruppe verhindern.
Die gescheiterten Forcierungsversuche russischer Truppen am Fluss Siverskij Donez in der Ukraine im Mai 2022 zeigten augenscheinlich die Herausforderungen, die sich für angreifende Kräfte an Wasserhindernissen ergeben. Brückenübergänge und Fährstellen sowie die dahinterliegenden Truppenkonzentrationen sind in hohem Maße durch Luftangriffe und Steilfeuer verwundbar. Darüber hinaus besteht in jeder Phase des Gewässerüberganges die Gefahr, dass es dem Verteidiger gelingt, bereits übergesetzte Kräfte von den nachfolgenden Kräften am Gewässerübergang zu trennen und den gebildeten Brückenkopf durch einen Gegenangriff zu vernichten, bevor dieser konsolidiert werden konnte.
Übersetzfähigkeiten
Wegen der Vielzahl an Wasserhindernissen in Europa verfügt ein Großteil der von den Landstreitkräften des Übungsgegners Rot eingesetzten Gefechtsfahrzeuge über amphibische Fähigkeiten. Beinahe alle Transport- und Schützenpanzer sind schwimmfähig und nutzen ihr Kettenlaufwerk beziehungsweise die Räder für die Bewegung über das Wasserhindernis. Kampfpanzer hingegen können nach entsprechender Vorbereitung mit Hilfe eines Schnorchels, der die Besatzung und den Motor mit Sauerstoff versorgt, Wasserhindernisse mit festem Untergrund und von bis zu fünf Metern Tiefe durchqueren.
Erste Brückenschlagfähigkeiten der Pioniertruppe sind strukturell erstmals in der Pionierkompanie auf Ebene des Regimentes vorhanden. Mit panzer- und fahrzeuggestützten Schnellbrücken wie dem TMM-System aus sowjetischer Produktion (auf Deutsch: schwere mechanisierte Brücke) kann der Übungsgegner Rot rasch Übergänge für nicht-amphibische Fahrzeuge über schmale Wasserhindernisse errichten.
Im Pionierbataillon der selbstständigen Brigaden beziehungsweise der Divisionen sind erstmals Pontonbrückensysteme, Kettenschwimmwägen, Arbeitsboote und weitere fahrzeuggestützte Brückensysteme verfügbar. Die Pionierregimenter der Armeen sowie die Pionierbrigaden und Ponton-Brückenbrigaden der Militärbezirke verfügen darüber hinaus über amphibische Schwimmschnellbrücken- und Übersetzfahrzeuge. Mit dem Übersetzgerät auf Ebene der Armee und des Militärbezirkes können entweder die Divisionen und die selbstständigen Brigaden in Richtung der Hauptanstrengung verstärkt oder die – während eines Angriffes errichteten – Übergänge ersetzt werden.
Wasserhindernisse und Aufgaben der Führungsebenen
Vom Übungsgegner Rot werden Wasserhindernisse nach ihrer Breite und ihrer Tiefe gemäß nebenstehender Tabelle unterschieden. Die Breite des Wasserhindernisses hat Einfluss auf die Wahl der Überquerungsmethode, die Art der Überquerung, den Bedarf an Übersetzmitteln und die Dauer der Überquerung. Die Forcierung von Wasserhindernissen ist je nach Gewässerbreite Aufgabe nachstehender Führungsebenen:
- Gewässerübergänge bis zu 25 Metern Breite sind Aufgabe eines Regiments,
- Gewässerübergänge bis zu 100 Metern Breite sind Aufgabe einer selbstständigen Brigade oder einer Division,
- Gewässerübergänge über 100 Metern Breite sind Aufgabe einer Armee (oder Armeekorps) und benötigen zumeist weitere Kräfte und Mittel der Front (des Militärbezirkes).
Schmale Wasserhindernisse (bis 100 Meter) werden in der Regel durch Furten, mit schwimmfähigen Gefechtsfahrzeugen und Landeübersetzmitteln (Kettenschwimmwägen und amphibischen Brückenfähren) überwunden. Für das Übersetzen der Truppen werden auch häufig mechanisierte Brücken und Behelfsbrücken genutzt.
An mittleren (100 bis 250 Meter) und breiten (250 bis 600 Meter) Wasserhindernissen erfolgt das Übersetzen der Truppen im Wesentlichen auf schwimmfähigen Gefechtsfahrzeugen, Landeübersetzmitteln und Fähren. Wenn ausreichend Pontons zur Verfügung stehen, können auch Schwimmbrücken errichtet werden. Die Forcierung von großen (über 600 Meter) Wasserhindernissen (Meerengen und Buchten, Seen, Staubecken, Überschwemmungsgebiete und breite Flussmündungen) erfolgt entweder selbstständig wie an mittleren und breiten Wasserhindernissen oder im Zusammenwirken mit Kräften der Flotte und der Flussflottillen. Dabei kommt der Luftaufklärung, dem breiten Einsatz weitreichender Artillerie, der Einnahme vorhandener Brücken sowie von gegnerischen Schiffen, Lastkähnen und anderen schwimmenden Übersetzmitteln besondere Bedeutung zu.
Arten von Übersetzstellen
Die Art und die Anzahl an Übersetzstellen an den Forcierungsabschnitten werden vom Übungsgegner Rot abhängig von den vorhandenen Übergängen und Übersetzmitteln, dem Charakter des Wasserhindernisses und der gewählten Methode für die Forcierung der Kräfte festgelegt. An unterschiedlichen Arten von Übersetzstellen unterscheidet der Übungsgegner Furten, Schwimm- und Landungsstellen, Fährstellen und Brückenübergänge.
Furt
Die Identifizierung geeigneter Geländeabschnitte für das Furten und das Tiefwaten beziehungsweise die Tauchfahrt von Kampfpanzern erfolgt durch den vorgestaffelten Ansatz von Aufklärungs- und Pionieraufklärungskräften. Wasserhindernisse bis zu 1,5 Metern Tiefe, zugänglichen Ufern und einem relativ harten Flussbett können von den Kräften gefurtet werden. Uferböschungen bis 15 Grad erlauben allen Fahrzeugen und Mannschaftstransportpanzern das Aus- und Einfahren. Steilufer mit 15 bis 25 Grad können nur noch von Panzern befahren werden. Neigungen über 25 Grad, felsige Oberflächen sowie sumpfige Flussufer benötigen zusätzliche pioniertechnische Maßnahmen.
Bei einer Wassertiefe von 1,5 bis fünf Metern können Kampfpanzer das Wasserhindernis durch Tiefwaten oder Tauchfahrt überwinden. Die Tauchfahrt von Panzern erfolgt in der Regel erst nach der Inbesitznahme eines Brückenkopfes am gegenüberliegenden Ufer und einer umfassenden Erkundung des Wasserhindernisses. Die Überquerung eines Wasserhindernisses von Kampfpanzern mittels Tiefwaten beziehungsweise in Tauchfahrt erhöht den Überraschungseffekt beim Verteidiger und reduziert den Bedarf an Fähren für das Übersetzen.
Landungs- und Schwimmstellen
Ab einer Wassertiefe von zwei Metern und einer maximalen Strömungsgeschwindigkeit von 1,5 m/s können amphibische Transport- und Schützenpanzer das Wasserhindernis schwimmend überqueren. Die Forcierung wird an festgelegten Schwimmstellen vorzugsweise bei Nacht und schlechter Sicht oder dem Einsatz von künstlichem Nebel durchgeführt. Zusätzlich erfolgt während der Schwimmphase eine intensive Feuerunterstützung durch Kampfpanzer, Artillerie und Luftkampfmittel vom diesseitigen Ufer aus. Die übersetzenden Transport- und Schützenpanzer sind in der Lage, während der Forcierung mit ihren Bordwaffen Feindkräfte am gegenüberliegenden Ufer zu bekämpfen.
Mithilfe von Kettenschwimmwägen, beispielsweise PTS-2 oder den moderneren PTS-4, können Soldaten, leichte Fahrzeuge oder Artilleriegeschütze über das Wasserhindernis transportiert und an sogenannten Landungsstellen abgesetzt werden. Kettenschwimmwägen werden bis zu einer maximalen Strömungsgeschwindigkeit von 2,5 m/s eingesetzt. Der Beginn des Übersetzens mit Kettenschwimmwägen erfolgt dabei 15 bis 20 Minuten nachdem die schwimmfähigen Transport- und Schützenpanzer der ersten Staffel mit dem Forcieren begonnen haben.
Fährstellen
Fähren werden vom Übungsgegner Rot eingesetzt, um nicht-amphibisches schweres Gerät über mittlere bis breite Wasserhindernisse zu transportieren. In der Regel werden drei bis vier Fähren je Übersetzstelle eingesetzt. Da Kettenfahrzeuge beim Ausfahren die Uferböschungen aufreißen und für Radfahrzeuge unbrauchbar machen, werden grundsätzlich getrennte Fährstellen für Rad- und Kettenfahrzeuge eingerichtet.
Für den Fährbetrieb werden sowohl amphibische Brückenfähren PMM als auch Pontonfähren eingesetzt, die von den in den Pontonbrückenkompanien verfügbaren Bugsierbooten manövriert werden. Abhängig von der Anzahl der gekoppelten amphibischen Brückenfähren beziehungsweise der eingesetzten Pontons und Bugsierboote erhöht sich die Länge und Tragfähigkeit der Fähren. Der Fährbetrieb kann bereits 30 Minuten nach erfolgter der Forcierung durch die schwimmfähigen Transport- und Schützenpanzer aufgenommen werden.
Amphibischen Brückenfähren können bis zu einer Strömungsgeschwindigkeit von 2 m/s und einem Seegang 2 (schwach bewegte See, Wellenhöhe bis 0,5 Meter) betrieben werden. Abhängig vom Pontonsystem erfolgt der Einsatz von Pontonfähren bis zu einer Strömungsgeschwindigkeit von 3 m/s und einem Seegang der Stärken 2 bis 3 (leicht bewegte See, Wellenhöhe bis 1,25 Meter). Bei Wasserhindernissen mit einer Breite von bis zu 100 Metern werden in der Regel keine Pontonfähren eingesetzt, sondern sofort Pontonbrücken errichtet.
Brückenübergänge
Brücken weisen eine größere Tragfähigkeit und Übersetzkapazität auf als die davor dargestellten Übergänge. Sie werden daher vom Übungsgegner Rot bevorzugt, um während der Offensive die hohen Vormarschgeschwindigkeiten aufrechtzuerhalten. Brücken sind jedoch gegenüber Artilleriebeschuss und Luftangriffen sehr verwundbar und benötigen daher einen umfassenden Schutz durch Flugabwehrkräfte und ein effektives Artillerie-Gegenfeuer. Beispielsweise werden Schwimmbrücken vor allem bei großen Wasserhindernissen nur während der Nacht, bei Nebel oder Regen genutzt. Abhängig von der Feindlage werden sie mit Tagesanbruch abgebaut und das Übersetzen der Truppen im Fährbetrieb und mit Landeübersetzmitteln (Amphibienfahrzeugen) fortgesetzt.
An sehr schmalen Wasserhindernissen werden Panzerschnellbrücken oder TMM-Brückensysteme eingesetzt. Abhängig vom Typ der Panzerschnellbrücke können 18 bis 20 Meter breite Wasserhindernisse überwunden werden. Der kombinierte Einsatz von zwei Panzerschnellbrücken ermöglicht ein Überqueren von bis zu 30 Meter breiten Hindernissen. Mit dem TMM-3- beziehungsweise TMM-6-Brückensystem ist die Errichtung einer bis zu 40 Meter beziehungsweise 102 Meter langen Brücke möglich.
Für breitere Wasserhindernisse stehen dem Übungsgegner Rot unterschiedliche Pontonbrückensysteme (PMP, PMP-M, PP-91, PP-2005, PP-2005M) zur Verfügung, die organisatorisch in Pontonparks zusammengefasst sind. Die in einer Pontonbrückenkompanie strukturierten Kräfte entsprechen dabei einem „Halbpark“. Mit dem in einem Pontonpark des Systems PMP verfügbaren Gerät können, abhängig von der Tragfähigkeit, Schwimmbrücken mit einer Länge von bis zu 382 Metern (20 t) beziehungsweise bis zu 227 Metern (60 t) errichtet werden. Das Pontonparksystem PP ermöglicht die Errichtung von Schwimmbrücken mit einer Tragfähigkeit von 60, 90 oder 120 Tonnen und einer Länge von bis zu 268 Metern (60 t), 165 Metern (90 t) oder 141 Metern (120 t).
Mit dem Schlagen von Schwimmbrücken wird begonnen, sobald das gegenüberliegende Ufer in Besitz ist und dort ein Brückenkopf errichtet wurde, welcher in Folge einen sicheren Brückenschlag gewährleistet. Die Strömungsgeschwindigkeit des Wasserhindernisses darf für die Errichtung und den Betrieb der Pontonbrücken
3 m/s nicht überschreiten. Die Errichtung einer Schwimmbrücke ist darüber hinaus auch durch die Verbindung einer ausreichenden Anzahl an amphibischen Brückenfähren PMM-2M möglich. Niedrigwasserbrücken wiederum können in weiterer Folge Pontonbrücken, Fähren und Kettenschwimmwägen für den Einsatz bei anderen Übergängen freimachen. Diese Niedrigwasserbrücken stützen sich auf Pfähle und benötigen daher eine deutlich längere Zeit für die Errichtung.
Anzahl von Übergängen
Wasserhindernisse werden vom Übungsgegner Rot grundsätzlich immer auf „breiter Front“ überquert. Die Breite des Forcierungsabschnittes entspricht daher zumeist der Breite des Angriffsstreifens der jeweiligen Führungsebene. Dadurch soll das Lagebild des Verteidigers in der entscheidenden Phase erschwert, die Gefahr von verwundbaren Kräftekonzentrationen am Ufer verringert sowie die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Bildung von zumindest ein bis zwei funktionsfähigen Brückenköpfen erhöht werden.
Für ein motorisiertes Schützenbataillon werden üblicherweise zwei bis drei Schwimmstellen für die Forcierung mit amphibischen Gefechtsfahrzeugen festgelegt. Zusätzlich werden ein bis zwei Übergangsstellen für Kettenschwimmwägen (zwei, wenn das Bataillon nicht über schwimmfähige Gefechtsfahrzeuge verfügt) sowie eine Fährstelle für Pontonfähren je motorisiertem Schützenbataillon eingerichtet. Je Regiment beziehungsweise selbstständiger Brigade wird eine Pontonbrücke errichtet. Für Kampfpanzer können ein bis zwei Übergangsstellen für die Tauchfahrt je Regiment beziehungsweise selbstständiger Brigade eingerichtet werden.
Ausblick
Dieser erste Teil der „Forcierung von Wasserhindernissen“ bietet einen Überblick über die Übersetzfähigkeiten der Kampf- und Pioniertruppen des Übungsgegners Rot sowie über die unterschiedlichen Arten von Gewässerübergängen mit ihren spezifischen Voraussetzungen und Parametern. In der folgenden Ausgabe werden die unterschiedlichen Methoden und der Ablauf der Forcierung eines Wasserhindernisses durch den Übungsgegner Rot betrachtet.
ObstltdG Mag.(FH) Georg STIEDL, MA; Referatsleiter & Forscher Operations Research/LVAk
Oberst dG Mag.(FH) Mag. Jürgen SCHERL; Referatsleiter & HLO & Forscher Ref Taktik/LVAk
Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 2/2024 (397).