- Veröffentlichungsdatum : 10.07.2023
- – Letztes Update : 04.06.2024
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PerpektivenReich: Eiserner Vorhang 2.0?
Migrationsbewegungen werden zunehmend zu einer Herausforderung für die EU. Österreich ist durch Einwanderung über die Balkanroute betroffen. Diese teilt sich in zwei Hauptrouten, über die die illegale Einwanderung derzeit stattfindet: Die Balkanroute von Griechenland, über Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Slowenien zum einen und über Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Österreich zum anderen. An den EU-Außengrenzen ist aktuell der Ukraine-Krieg ein Thema. Dort gibt es bereits Bemühungen zur baulichen Verstärkung der Grenze, eine Art Eiserner Vorhang 2.0. Die EU zeigt sich dazu diplomatisch und wohl auch angesichts des Ukraine-Krieges zurückhaltend. Die einzelnen Staaten arbeiten unterdessen an eigenen Zaunprojekten, um ihre Grenzen abzusichern. Aufgrund dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, wie mit Migrationsbewegungen durch die offenen Grenzen des Westbalkans seitens der EU umgegangen wird. Aber auch wie die EU-Außengrenze zu Russland verlaufen wird bzw. welches Szenario sich in Zukunft durchsetzt, ist ein Thema.
Migrationsentwicklung
Zwischen Jänner und Februar 2023 wurden laut Frontex 8.394 Menschen beim illegalen Grenzübertritt über die Westbalkanrouten registriert. Das ist ein Rückgang von 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Grund dafür ist die Angleichung der serbischen Visapolitik an die EU-Anforderungen. Dennoch ist die Route über Serbien laut EU nach wie vor die zweitwichtigste in den Unionsraum. Über den Westbalkan kommen Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei, wie die Registrierung belegt. Kroatien ist seit dem 1. Jänner 2023 Schengen-Mitglied, wodurch es zu einem Staat mit einer EU-Außengrenze wurde.
Auch die UNHCR bemerkt eine Senkung der Zahlen im Vergleich zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015/16 über die Balkanroute, beschreibt jedoch weiterhin die politische Herausforderung für Europa. "Bei der Achtung von Menschenleben […] gibt es eine rechtliche Verpflichtung. Während Länder das legitime Recht haben, ihre Grenzen in Übereinstimmung mit internationalem Recht zu kontrollieren, müssen sie dabei auch die Menschenrechte respektieren. ,Pushbacks‘ sind schlicht und einfach illegal", sagt Gillian Triggs, die Stellvertretende UN-Flüchtlingshochkommissarin. Sie bezieht sich dabei auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und die Grundrechtecharta der EU. Die Konvention unterteilt in Fluchtgründe und Migration. Die Aufgabe der Unterscheidung dieser beiden Kategorien ordnet sie den nationalen Behörden zu.
Bundeskanzler Karl Nehammer sprach sich im Dezember 2022 für einen „Flüchtlings-Zaun“ an den EU-Grenzen aus und forderte Barrieren an den EU-Außengrenzen. Bulgarien, dem der Schengen-Beitritt bisher verwehrt wurde, solle mit Hilfe von EU-Mitteln einen Zaun errichten. Selbst der bulgarische Präsident Rumen Radew führt die Notwendigkeit eines Grenzbauwerkes an. Laut Nehammer würden dafür zwei Milliarden Euro fehlen, da die EU-Kommission die Gelder nicht freigeben würde. Österreichs Veto gegen Rumäniens Schengen-Mitgliedschaft sieht er hingegen nicht als Grund.
Nationale Maßnahmen
Zahlreiche Staaten stellen an ihren EU-Außengrenzen mittlerweile Bauwerke auf. Diese sind unterschiedlich gestaltet und erfüllen verschiedene Bedürfnisse. Die EU-Außengrenze im Osten zu Belarus, Russland, der Ukraine und Moldau hat eine Länge von insgesamt 4.695 km. Die EU-Staaten Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Ungarn und Rumänien grenzen an diese.
Schweden
Die 1.340 km lange Grenze Schwedens ist Großteils unbewohnt und von der Taiga geprägt. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es Patrouillen zum Grenzschutz entlang der alle zehn bis 50 km errichteten Grenzschutzposten. Es gibt keine bauliche Abgrenzung, allerdings ist die Grenze durch farblich markierte Pfosten im Boden gekennzeichnet.
Finnland
Finnland ist NATO-Beitrittskandidat und teilt sich eine 1.300 km lange Grenze mit Russland. Aufgrund des Ukraine-Krieges nahm die finnische Regierung 163 Millionen Euro für die Anschaffung von Flugzeugen zum Grenzschutz in die Hand. Mit Überwachungsflugzeugen des Typs Dornier 228 soll die Grenze über den Luftweg gesichert werden. Weiters werden an einigen Abschnitten der Grenze, die keine Sümpfe, Gewässer oder Waldbarrieren darstellen, Zäune errichtet. Diese sind 3,5 m hoch und insgesamt knapp 200 km lang.
Estland
Estland hat einen großen See in seine Grenze eingebettet, im Norden gibt es neben dem Grenzfluss eine bauliche Barriere bei Narva. Dieses 104 km lange Bauwerk wurde bereits fertiggestellt. Darüber hinaus wurden Panzersperren an der estnisch-russischen Grenze errichtet.
Lettland und Litauen
Beide Staaten bauen aktuell einen gemeinsamen Zaun an der russischen Grenze. Mit diesem nahtlosen Bauwerk sichern sich beide Staaten gegen Russland ab. Lettlands Zaunabschnitt geht bis zur Grenze Belarus hin weiter. Lettlands Teil des Zaunes ist 130 km lang und mit Stachelbandrollen versehen. Litauens Umzäunung umfasst derzeit 574 km bei einer Höhe von vier Metern und wurde im Herbst 2022 errichtet. Die litauische EU-Außengrenze wird mit Hilfe von Kameras überwacht und es werden Pushbacks durchgeführt. Migranten, die illegal auf litauisches Territorium gelangen, werden aufgegriffen, zurück zur Grenze transportiert und anschließend retour geschickt. Die militärische Überwachung findet direkt an der Grenze statt.
Polen
Polen hat damit begonnen Panzerhindernisse an den Grenzübergängen zu Russland aufzustellen. Diese sind aus Beton und miteinander verkettet. Weiters errichtet Polen ein insgesamt 186 km langen und 5,5 m hohes Bauwerk zur weißrussischen Grenze mit Stahlelementen und Stacheldraht. Mittels elektronischer und Überwachung in Form von Patrouillen wird die Grenze gesichert. Dafür sind mehr als 1.000 Menschen beschäftigt.
Österreich
Österreich hat keine EU-Außengrenze, dennoch wurden zwei Zäune an der Grenze errichtet. Einer davon ist an der Grenze zu Slowenien und ist drei km lang, der zweite hat eine Länge von 0,3 km und befindet sich auf dem Brenner an der Grenze zu Italien.
Ungarn
Ungarn hat einen Grenzzaun zu Serbien und Kroatien mit einer Länge von 289 km. Er wurde ab dem Jahr 2015 infolge der Migrations- und Flüchtlingskrise errichtet. Die Zahl der Grenzübertritte hat sich nach dem Errichten des Zaunes stark verringert.
Slowenien
Sloweniens Grenzzaun ist 199 km lang und liegt an der Grenze zu Kroatien. Der Zaun besteht zum Teil aus NATO-Draht, an anderen Stellen wurde ein drei bis vier Meter hoher Grenzzaun errichtet. Er diente der Eindämmung der Migrations- und Flüchtlingsbewegungen von 2015. Aktuell wird diskutiert, ob der Zaun wieder abgebaut werden soll.
Bulgarien
Bulgarien hat über 235 km eine Grenzbefestigung zur Türkei hin errichtet. Der Zaun wird immer wieder durchbrochen, weshalb die Grenzkräfte neben der Sicherung auch die Reparatur bzw. Instandhaltung des Bauwerkes durchführen.
Griechenland
Griechenland errichtet an der Grenze zur Türkei beim Fluss Evros sukzessive eine stählerne Mauer. Dieses Bauwerk soll die Flucht über diese Route erschweren, wie das Land bekanntgibt. Aktuell melden Rechtsmediziner in der Evros-Region mehr Obduktionen als im vergangenen Jahr. Die Zahl der Obduktionen ist in Griechenland aussagekräftig, da die Identität der Toten nicht geklärt wird.
Ukraine-Krieg: Neue Grenzziehung?
Aufgrund des Ukraine-Krieges sollte sich die EU die Frage stellen, wo die zukünftige Grenze verlaufen könnte und welchen Charakter ein mögliches Grenzmanagement haben sollte. Aufgrund der aktuellen Situation lassen sich mögliche Szenarien für zukünftige Grenzverläufe ableiten, die für die zukünftige Bearbeitung dieses Themas relevant sein werden, von denen vier beispielhaft erörtert werden.
Szenario 1
Der am weitesten im Westen mögliche Grenzverlauf mit der Ukraine wäre der ursprüngliche Grenzverlauf als EU-Außengrenze. Die Außengrenze würde damit von Norden nach Süden Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Bulgarien und Griechenland beinhalten. Im Norden ist die Grenze von Schweden bis Finnland noch offen. Estland, Lettland und Litauen haben eine Sperranlage zu Russland und Belarus errichtet. Polen hat zu Belarus eine durchlaufende Sperre der Grenze mit Zäunen errichtet. Die nachgelagerten EU-Staaten besitzen lückenhaft Grenzzäune. Rumänen und Bulgarien haben zum Meer hin nach wie vor eine praktisch offene Grenze. Bulgarien und Griechenland besitzen wiederum eine Sperranlage zur Türkei.
Szenario 2
Von Schweden bis Polen verbleiben die Staaten wie in Szenario 1. Moldau wurde im Juni 2022 der Status eines EU-Bewerberlands zuerkannt. Zwischen der Republik Moldau und der Ukraine gibt es keine Barriere. Aufgrund des Ukraine-Krieges ist diese Migrationsroute wenig frequentiert. Für die EU wäre die mögliche Migrationsroute über Moldau im Vorfeld des EU-Beitrittes jedenfalls zu thematisieren.
Szenario 3
Der Ukraine-Krieg und die von Russland besetzten Gebiete, ergeben die vielleicht sehr lange offene Frage nach dem Nachkriegs-Grenzverlauf. In diesem Zusammenhang wäre der Status des Krieges bzw. Konfliktes, es wäre auch ein Einfrieren der Front oder ein Waffenstillstand beim Verharren im offiziellen Kriegszustand möglich, zu beachten. Im verlustreichsten Szenario würde die Grenze der Ukraine ohne der Krim und entlang des Dnepr verlaufen. Die Republik Moldau wäre dann unter Umständen bereits EU-Mitglied.
Szenario 4
Die Ukraine wird nach dem Ende des Krieges, unabhängig des Grenzverlaufes zu Russland, EU-Mitglied und in weiterer Folge Teil des Schengenraumes. Damit würde die ukrainisch-russische Grenze zur EU-Außengrenze, mit einem vermutlich strikten Grenzmanagement, zumindest in den ersten Jahren nach dem Krieg.
Fazit
Die genauere Betrachtung von „Grenzbefestigungen“ zeigt, dass es kein durchgängiges Bauwerk und damit keine einheitliche, multilaterale Vorgehensweise gibt. Die EU vermeidet es Grenzbauten in ihrer Kommunikation zu thematisieren, da diese nicht mit dem Schengen-Abkommen und den damit verbundenen offenen Grenzen vereinbar sind. Allgemein gilt für Grenzbauten ein -militärisches- Prinzip: eine Sperre, die nicht überwacht wird, ist keine Sperre. Daher ist eine Dreiteilung der modernen und hybriden Grenzraumüberwachung mit Humanüberwachung, Drohnen und Kameras sinnvoll.
Das Verschweigen oder Negieren von Fakten oder gegenwärtigen Entwicklungen ist jedoch keine Option in einer demokratischen Wertegemeinschaft, als die sich die EU sieht. Vielmehr wäre ein breiter, sachlich nüchterner europäischer Diskurs zu dem Themenkomplex Grenzmanagement, Migration und Flucht notwendig. Dies ist nicht nur die Basis um auf zukünftige Migrations- und Flüchtlingskrisen vorbereitet zu sein, sonder es wäre auch das Fundament für das Vermeiden einer unsachlichen, im schlimmsten Fall extremistische Rhetorik und dem Sicherstellen einer rechtlich soliden sowie menschlichen Lösung, mit oder ohne Zäune.
Mag. Katharina Reich lehrt zu sicherheitsrelevanten Infrastrukturen, Ökonomie und komplexem Denken an diversen Universitäten und Fachhochschulen.