• Veröffentlichungsdatum : 01.10.2020
  • – Letztes Update : 02.11.2020

  • 9 Min -
  • 1737 Wörter

Manöver mit Fragezeichen

Horst Pleiner

Das Geschehen ab Mittag des 11. November wirft zum Einsatz der 3.PzGrenBrig und zum Übungsverlauf einige Fragen auf. Der de facto Übungsleiter Oberst dG Segur-Cabanac musste sich zwangsläufig an die Vorgaben von höherer Stelle für die Verwendung der 3.PzGrenBrig gebunden sehen. Aber seine drei Vorgesetzten im Gruppenkommando blieben sozusagen wenig „sichtbar“ und griffen nicht in den als „frei“ genehmigten Ablauf ein. Was für die Übungsparteien galt, sollte doch auch für die Übungsleitung vertretbar sein und außergewöhnliche Lagen erfordern wohl auch darauf abgestimmte Maßnahmen? Die dokumentierte Intervention des Befehlshabers der Gruppe II bei der Übungsleitung am 11. November, die Übung abzubrechen und einen Neuansatz mit neuer Ausgangslage vorzunehmen, war abgelehnt worden.

Über ein etwaiges Gespräch zwischen General Bach und General Reichel ist nichts dokumentiert und auch der GTI hat über seine Eingriffe und Besprechungen am Abend des 11. Novembers nichts hinterlassen. Aber Gen Reichel, der 1968 nach dem Ableben von General Waldmüller bestellte Befehlshaber der Gruppe I, hätte ohne weitere Beeinträchtigung seiner Laufbahn und Person doch übungsbedingte Modifikationen anordnen oder genehmigen können. Schon am frühen Nachmittag des 11. November bestand die Option hinsichtlich der 3.PzGrenBrig aus eigenem Entschluss von den Vorgaben der Gruppe Operation abzugehen oder allenfalls Absprachen/Anträge bei dem im Übungsraum befindlichen Brigadier Freihsler oder dem GTI vornehmen zu können. Ein Heranführen der 3.PzGrenBrig an die Erlauf am Nachmittag des 11. November oder in der Nacht zum 12. November hätte den Gesamteindruck schon entscheidend verbessern können.

Ein späterer Gegenangriff der 3.PzGrenBrig als Paukenschlag zum Übungsende hätte auch nach einer solchen Maßnahme wahrscheinlich ganz brauchbar organisiert werden können. Dem Vernehmen nach waren auch Befürchtungen wegen Flurschäden vorhanden, aber die Flurschäden am 13. November waren dann noch dazu bei regenfeuchtem Boden auch da? Aber auch der Ansatz einer Jägerbrigade zum Hinhaltenden Kampf vorwärts der Erlauf wurde später kritisiert. Warum das dann am 12.November doch kurzfristig in die Übung einbezogene Panzerbataillon 4 nicht von Anbeginn eingebracht wurde, ist ein Rätsel der Geschichte geblieben.

Dass eine Jägerbrigade in ihrer damaligen Motorisierung und gezogenen oder auf Jeep lafettierten Panzerabwehr in einer Panzerkampfzone oder einer Mischzone mit vorwiegend Panzergelände nicht in der Lage sein könne einem mechanisierten Angreifer standzuhalten war zum Zeitpunkt der „Bärentatze“ an sich keine Neuigkeit. Man war sich auch nicht nur unter den kriegserfahrenen (vorwiegend) Infanterieoffizieren wie Wohlgemuth, Schilhahn, Hoffman, Adrario & Co weitgehend bewusst, dass in solchem Gelände auch eine Mischung aus zeitlich begrenzter Verteidigung und Verzögerungskampf ohne nachdrückliche Einbindung von (vormals Sturmgeschützen und später) Jagd- und Kampfpanzern nicht planbar geführt werden konnte. Dazu kam im ÖBH das Problem die Verteidigung aus Stützpunkten, die bei den üblichen Breiten der Gefechtsstreifen kaum jemals im Sinne der geltenden AVI-Richtlinien wirksam werden konnten. Außerdem erachtete man durchwegs eine Rücknahme der Infanterie bei Tag ohne eigene Luftsicherung nur als Notmaßnahme gerechtfertigt. Dass selbst ohne Lufteinwirkung dann von einer koordinierten Abwicklung keine Rede sein konnte, hatte die „Bärentatze“ wohl endgültig klargemacht. Der 1.JgBrig war kein Vorwurf zu machen, sie hatte eben versucht im Rahmen des Auftrages und der Bedingungen so gut es eben möglich erschien die Kräfte einzusetzen.

Auch der 9.PzGrenBrig war für den nicht den Intentionen auf höheren Ebenen für einen dem Ostfeind entsprechenden Ansatz der Kräfte nach kurzer Bereitstellung kein Vorwurf zu machen. Der Stab der 9.en hatte aus der Lage und den Vorgaben den taktisch wahrscheinlich besten Plan der Durchführung erstellt und, da von keiner höheren Stelle Einwände oder Richtlinien zum vorgelegten Plan der Durchführung eingebracht wurden, dann auch in flexibler und entschlossener Führung den Angriff am 11. November eben in „freier“ Weise durchgezogen. Das Wissen um den neuen Erlaufübergang bei Mühling kann man als Imponderabilie für die Partei „Blau“ oder als Fehleinschätzung während der Erkundung an der Erlauf zur Kenntnis nehmen. Die konsequente und vor allem rasche Ausrichtung nach dem so erfolgreich gelungenen Einbruch in die 1.JgBrig auf diesen Punkt an der Erlauf war dazu als Beweis des hohen Ausbildungsstandes gerade dieser alten „Spannocchi“-Brigade und des Könnens und der Initiative der verantwortlichen Kommandanten zu verstehen.

Kritik und Lehren

Grundsätzlich hat die Übung „Bärentatze“ gezeigt, dass die Leitung einer derartigen Übung in operativ sensiblem Gelände und mit derartigen Zielen und Vorgaben vom GTI oder vom Leiter der Sektion III wahrzunehmen gewesen wäre. Aber der GTI war seit 1961 nur mehr für die Führung im Einsatz zuständig, mit der Sektion III (abgesehen von Brigadier Freihsler) nicht sehr freundschaftlich verbunden und wie seinen äußerst wenigen Eintragungen in seinen Tagebüchern aus dieser Zeit zu entnehmen ist, vom Bundesminister Dr. Prader frustriert. Da General Seitz, der Leiter der Sektion III in der Funktion nach außen wenig in Erscheinung trat, hätte allenfalls noch Brigadier Freihsler als Leiter der Gruppe Operation die Funktion des Übungsleiters mit einem entsprechenden Stab (wie 1965) wahrnehmen können. Dann hätte sich das Gruppenkommando I auf die territorialen Angelegenheiten und vor allem die Führung von „Blau“ konzentrieren und damit so manches Ungemach abwenden können. Da 1965 eine solche Führungsstruktur akzeptiert gewesen war, stellen diese Feststellungen keine (ohnedies nicht beabsichtigte) Sicht aus späterem Einblick dar, sondern den Versuch zumindest anzuregen über jene Gegebenheiten nachzudenken, die zwischen 1963 und 1992 im Führungsbereich des ÖBH wirksam waren und zum Teil auch für die sich entwickelnde Sinnkrise des ÖBH (Schlagwort „viel Panzer und wenig Hirn“) verantwortlich waren.

Die Kritik begann im ÖBH und in der Öffentlichkeit rasch nach dem Abschluss der Übung ohne eine Auswertung oder einen Abschlussbericht abzuwarten. Ob ein solcher Bericht für interne und/externe Verwendung überhaupt vorgesehen war, hat sich durch den Autor nicht klären lassen. Der Befehlshaber der Gruppe II, General dInf Bach, äußerte am 4. Dezember 1969 besorgt seine Meinung in einem privaten Brief an den GTI sowie einige Leiter der Zentralstelle und Kommandanten ohne seinen Gruppenstab in Graz davon zu informieren. General dInf Bach sah das Gruppenkommando I als Übungsleitung mit der Aufgabe und durch die einschränkenden Vorgaben überfordert und für ein solches Vorhaben Zuständigkeit und Verantwortung beim GTI. Eine Jägerbrigade könne unter derartigen Umständen nicht erfolgreich hinhaltend kämpfen, daher sah Bach in einem Überraschungsangriff aus den Voralpen heraus gegen den Feind im Alpenvorland günstigere Erfolgsaussichten.

Der GTI wies die von Bach angeführten Punkte in einer Information an den Leiter der Gruppe Operation Brigadier Freihsler zurück. Ein Angriff von Infanterie gegen einen überwiegend mechanisierten Gegner war in der Form als nicht erfolgversprechend anzusehen. Als Konsequenz aus der deutlichen Ablehnung durch den GTI und einigen sehr kritischen Reaktionen forderte General dInf Bach von den Beteiligten die Rücksendung des Schreibens, die auch von allen erfolgte. Aber einer der Empfänger des Briefes hatte handschriftlich eine Notiz der Kernpunkte angefertigt, sodass sich der wesentliche Inhalt erhalten hat.

Bundesminister Prader sah sich durch die öffentliche und interne Kritik zu einer Reaktion veranlasst und beauftragte Brigadier Freihsler mit einem Vortrag über die „Bärentatze“ und die Erkenntnisse daraus vor dem LV-Rat sowie einem Gespräch mit Medienvertretern. Der Vortrag im LV-Rat erfolgte in der zweiten Dezemberwoche. Freihsler hob trotz der Rahmenbedingungen gezeigte positive Aspekte in Führung und Ausbildung hervor, erklärte das Erfordernis derartiger Manöver im freien Gelände und verwies abschließend auf einige Defizite in der Ausrüstung. Das Gespräch mit den Journalisten fand dann im Presseclub „Concordia“ statt, wobei Freihsler den Vortrag vor dem LV-Rat zu Rahmenbedingungen, Ablauf, Erkenntnissen und Kritikpunkten wiederholte.

Zu diesen extern eingebrachten Kritikpunkten des Leiters der Gruppe Operation arbeitete der GTI eine Stellungnahme als Information an den Bundesminister mit Datum vom 19. Dezember 1969 aus. Darin verwies der GTI auf die schon zu Mittag des 11. November gegebene Zerschlagung des nördlich Mank eingesetzten Jägerbataillon 4. Das weiter südlich haltende Jägerbataillon 2 hätte eventuell noch nach Süden in die Vorberge abfließen können. Ein Lufttransport von Einheiten des ÖBH bei Tag wäre undenkbar, eine solche Maßnahme bei gegebener feindlicher Luftherrschaft erbrächte ein falsches Bild und würde in der Realität zu schweren Verlusten führen. Weitere Punkte befassten sich unter anderem mit der unzureichenden Panzerabwehr der Infanterie, dem gezeigten Ausbildungsstand und der Art der Einbeziehung der Landwehrkräfte. Der Bundesminister ordnete daraufhin eine intensive Auswertung der Übung unter Leitung der Sektion III im Rahmen einer Arbeitsgruppe bis spätestens 12. Februar 1970 an. Ein Zwischenbericht war bis 20. Jänner 1970, der Endbericht dann bis12. Februar 1970 vorzulegen.

Die Auswertung der Übung durch das Gruppenkommando I lag schon mit 27. Jänner 1970 bei Brigadier Freihsler vor, der bereits am 14. Jänner 1970 geäußert hatte, es sei ein Fehler in der Übungsanlage gewesen, das Absetzen der 1.JgBrig aus der Widerstandslinie bei Tag vorzusehen und man hätte dies vermeiden können. Auch wäre ein Ansatz der 3.PzGrenBrig zum Gegenangriff von Süden vielleicht besser gewesen als die gewählte Variante aus dem Raum Amstetten nach Osten. Das wirft aber die Frage auf, wie das Gruppenkommando I die ursprünglichen Vorgaben der Sektion III hätte dazu interpretieren und vor allem bei den Gegebenheiten des Geländes hätte umsetzen können, ging es für die 3.PzGrenBrig doch eindeutig auch um eine Verfügbarkeit im Falle eines Angriffes durch das Mühlviertel auf den Raum zwischen St. Valentin, Mauthausen und Enns?

Brigadier Freihsler stellte nach Vorliegen des Berichtes der Gruppe I in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe die Auswertung fertig. Auch die Gruppe I sah sich durch die Einschränkungen und den zu klein dimensionierten Übungsraum überfordert. Die Leitung einer so groß dimensionierten Übung wäre Aufgabe des GTI gewesen. Die Panzerabwehr war grundsätzlich zu schwach. Verschiedene Forderungen der Gruppe I und der Waffeninspektoren zur Organisation und Ausrüstung seien nicht erfüllbar. Der Ausbildungsstand der unteren Ebene bis zur Kompanie habe sich als gut erwiesen und auch in Zukunft seien derartige Manöver weiterhin erforderlich. Der Bericht wurde dann am 10. Februar 1970 von General dInf Seitz, Leiter der Sektion III, genehmigt und in der Folge intern im BMLV verteilt. An die Befehlshaber der drei Gruppen und das Kommandos der Luftstreitkräfte erging der abschließende Bericht allerdings nicht.

Inzwischen sind 51 Jahre Bundesheer-Geschichte vergangen und ein Rückblick auf die Geschehnisse im November 1969 kann „sine ira et studio“ erfolgen und versuchen den Beteiligten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dies auch im Hinblick darauf, dass der spätere General i.R. August Segur-Cabanac sich wohl zurecht nach der Übung „Bärentatze“ als „Sündenbock“ gesehen hat und als von einzelnen Verantwortlichen wie etwa Brigadier Karl Lütgendorf, der spätere Bundesminister, unter anderem von operativer Tätigkeit ferngehalten, und damit in seiner Karriere behindert wurde. Dabei war dem G3/Gruppe I die Sache am wenigsten zum Vorwurf zu machen. Die Auswirkungen der „Bärentatze“ sind an anderen Stellen eingehend dokumentiert sowie kommentiert und die folgende Phase war für das ÖBH wohl als größter Tiefpunkt in seiner Entwicklung bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts zu bezeichnen.

zur Artikelserie

General i. R. Horst Pleiner war von 2000 bis 2002 der letzte Generaltruppeninspektor des ÖBH.

 

Ihre Meinung

Meinungen (0)