Psychologie: Hilfe nach Suizid
Im Schnitt nehmen sich mehr als drei Österreicher pro Tag das Leben. Das waren 2023 exakt 1 310 Menschen und somit dreimal so viele wie Verkehrstote bei gleichzeitig deutlich angestiegenem Verkehrsaufkommen (Statistik Austria: 2023 Todesursachenstatistik: 1 310 Selbsttötung; 2022 Verkehrsstatistik: 370 Straßenverkehrsunfälle). Über Verkehrssicherheit lernen wir bereits als Kind sehr viel – und über Suizidprävention?
75 Prozent der Suizide werden von Männern begangen. Faktoren wie Alter und Zugang zu Suizidmitteln (Waffen, Medikamente etc.) erhöhen das Risiko. Seit den 1980er-Jahren ist ein deutlicher Rückgang an Suiziden zu beobachten. Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre (militärische Auseinandersetzungen, Inflations- bzw. Teuerungswellen, COVID-Pandemie etc.) hinterlassen nachhaltige Spuren: Es zeigt sich wieder ein leichter Anstieg von Suiziden.
Berufsgruppen, die einem besonders hohen Stressfaktor ausgesetzt sind, und Zugang zu Suizidmitteln haben, wie das Militär oder die Polizei, weisen ein erhöhtes Suizidrisiko auf. Wie sieht das beim Bundesheer aus? Umfassende Präventionsmaßnahmen haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass die Suizidrate bei Grundwehrdienern, Kaderpersonal sowie Zivilbediensteten deutlich zurückgegangen ist. Der Jahresdurchschnitt der letzten 20 Jahre liegt laut Aufzeichnungen des Bundesheeres bei etwa acht Suizidfällen.
Anlaufstellen
- Helpline-Service (HLS)
- Heerespsychologischer Dienst
- GDLV/DION/MPsych
- Klinische Militärpsychologen in SanZentren
- Militärseelsorge
Präventionsmaßnahmen
Bei der Personalauswahl (Eignungstestung) wird Augenmerk auf potenzielle Selbst- und Fremdgefährdung gelegt. Weitere Maßnahmen sind jene der Psychoedukation. Darunter fallen etwa Aus- und Fortbildungen zur psychologischen Selbst- und Kameradenhilfe. Allen Angehörigen des Ressorts werden darüber hinaus Unterlagen (Berichte, Folder, Präsentationen etc.) zur Verfügung gestellt. Im Rahmen des Peer-Systems arbeiten speziell ausgebildete Soldaten eng mit Militärpsychologen zusammen. Truppenpsychologen stehen Verbänden im In- und Ausland zur Verfügung. Im Anlassfall können Betroffene klinisch-psychologische Ambulanzen des Sanitätswesens nutzen.
Ein wichtiges niederschwelliges Instrument ist das Helpline-Service, das 24/7 telefonisch psychologische Hilfestellungen für Soldaten, Zivilbedienstete des Ressorts sowie deren Angehörige bietet. Nach Suiziden findet zeitnah an der Dienststelle eine Krisenintervention statt sowie Fortbildungen zum Thema Suizidprävention und Postvention. Kriseninterventionsteams stellen unter anderem die Anbindung zu ausgewählten Anlaufstellen und Beratungseinrichtungen für betroffene Angehörige her.
Was ist Postvention? Unter Postvention versteht man das Paket an Unterstützungsmaßnahmen, das sich nach einem Suizidversuch oder Suizid an alle davon Betroffenen richtet. Der Trauerprozess soll unterstützt und die „suizidale Ansteckung“ (Folge- bzw. Imitationssuizide) verringert werden. Pro Suizidfall sind etwa drei bis sieben Personen unmittelbar schwer betroffen (z. B. enge Familienangehörige und Freunde) und etwa 15 bis 20 Personen aus dem näheren sozialen Umfeld (Kollegen, Mitarbeiter, Vorgesetzte, Mitschüler, Lehrer, Therapeuten, Helfer/Einsatzkräfte etc.). Bis zu 35 000 Hinterbliebene müssen in Österreich jährlich mit Trauer, Schuldgefühlen, depressiven Verstimmungen und teilweise mit eigenen Suizidgedanken umgehen. Dies verdeutlicht die Bedeutsamkeit von Postvention für Ressortangehörige.
Das Verarbeiten des Todes eines Angehörigen nach einem Suizid wird von Betroffenen häufig als besonders belastend erlebt. Dies liegt an individuellen (Persönlichkeit, Beziehung zur verstorbenen Person etc.) und sozialen bzw. gesellschaftlichen Faktoren (Tabuisierung, Stigmatisierung, Hilflosigkeit, Überforderung etc.). Die Trauerverarbeitung verläuft in der Regel in Phasen. Zu Beginn steht meist das „Nicht-Wahrhaben-Wollen“ der Situation, das von Gefühlen wie Schock und Lähmung begleitet wird. Nach einigen Wochen kommt es zu intensiven Gefühlen wie Trauer, Zorn, Wut, Angst und Schuldgefühlen, die mit körperlichen Begleiterscheinungen einhergehen können. Erst nach dem bewussten „Abschiednehmen bzw. sich trennen“ kann der Verlust akzeptiert werden und die Neuausrichtung erfolgen.
Bei der Trauerarbeit können für Hinterbliebene folgende Maßnahmen hilfreich sein: Die Würdigung des Verstorbenen, in dem beispielsweise Positives erwähnt wird oder Erinnerungsstücke übergeben werden, die Vermittlung von konkreten Hilfsangeboten (wie Anlauf- und Beratungsstellen, Selbsthilfe- bzw. Trauergruppen, Kriseninterventions- und Therapie-Einrichtungen) sowie das Vermindern von Stressoren (etwa der Schutz vor grenzverletzender Öffentlichkeit, Medien). Die Angehörigen brauchen vor allem ein geduldiges und einfühlsames Gegenüber. Auch Religion und Glaube können für Betroffene bedeutsam sein. Neben Interventionen, die das emotionale Erleben betreffen, werden konkrete Hilfsangebote zu organisatorischen Angelegenheiten (Erledigung von Telefonaten, Besorgungen, Begleitungen, Anbinden an Stellen etc.) bei der Rückkehr in die Normalität des Alltags als unterstützend erlebt. Denn: „Trauer ist keine Krankheit, sondern ein Prozess, der unerlässlich ist, damit die seelischen Verletzungen heilen können“.
OR Mag. Julia Girardi, MBA MSc; Psychologin beim Heerespsychologischen Dienst

Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 4/2024 (400).