• Veröffentlichungsdatum : 11.09.2024

  • 16 Min -
  • 3196 Wörter

Ukraine-Krieg: Die sechste Phase

Markus Reisner

Anfang Juni 2024, mehr als 800 Tage nach dem Beginn des Ukraine-Krieges, zeigt die Situation an der Front, dass die russischen Streitkräfte das Momentum wiedererlangt haben. Wie kam es zu dieser Situation? Was bedeutet dieser Umstand für die aktuelle Einsatzführung?

In den vergangenen Monaten fand die sechste Phase des Ukraine-Krieges, die zweite russische Winteroffensive, statt. Während dieser Phase ist der Eindruck entstanden, dass sich nicht viel an der Front getan hätte – tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Russland hat in dieser Zeit versucht, massiv entlang der gesamten etwa 1 200 km langen Front anzugreifen, während die Ukraine versuchte, dagegenzuhalten und sich zu verteidigen. 

Während die Russen, wenn auch nur in kleinen Schritten, aber stetig weiter vorrücken konnten, schaffte es die Ukraine in dieser Phase nur im Schwarzen Meer das Momentum (eine vorteilhafte, hier militärische, Situation und der daraus resultierende Schwung für eine zielorientierte eigene Einsatzführung) zurückzugewinnen. Das gelang durch den Versuch, mit unbemannten Überwasserfahrzeugen Teile der russischen Flotte anzugreifen, zum Teil überaus erfolgreich.

Phasen des Ukraine-Krieges 

Phase 1: Ukrainischer Abwehrerfolg (24. Februar bis März 2022)

  • Einmarsch von ca. 200 000 russischen Soldaten auf breiter Front
  • überraschender ukrainischer Abwehrerfolg bei Kiew (gescheiterte Luftlandung bei Hostomel)
  • Rückzug der russischen Truppen aus der nördlichen Ukraine
  • gescheiterte Friedensverhandlungen in Istanbul
  • Beginn der Einziehung russischer Reservisten

Phase 2: Beginnender Abnützungskrieg (April bis August 2022)

  • Russland zwingt ukrainischen Truppen einen Stellungskrieg auf
  • massiver Einsatz von russischer Artillerie entlang der gesamten Front
  • russischer Durchbruch bei Popasna und Einnahme von Lyssytschansk
  • russische Einnahme von Mariupol (20. Mai 2022)
  • Lieferung erster schwerer Waffen (vor allem „Ost-Systeme“) durch den Westen („HIMARS-Effekt“)

Phase 3: Ukrainische Offensiven (September bis Oktober 2022)

  • erfolgreiche ukrainische Offensive bei Charkiw (Überraschung und Täuschung)
  • erfolgreiche ukrainische Offensive bei Cherson (russisches Dünkirchen)
  • dritte geplante ukrainische Offensive bei Zaporizhzhya wird nicht durchgeführt
  • russische Bindung umfangreicher ukrainischer Kräfte bei Bakhmut
  • laufende Zuführung russischer Reservisten/Vertragssoldaten an die Front 

Phase 4: Russische Konsolidierung (November bis April 2023)

  • massiver Ausbau der russischen Stellungen bei Zaporizhzhya (Surovikin-Linie)
  • erste strategische Luftkampagne gegen die Ukraine (Zerstörung von 50 bis 60 Prozent der Kritischen Infrastruktur)
  • erste russische Winteroffensive (Ziel der Bindung ukrainischer Reserven)
  • gescheiterte russische Angriffe bei Ugledar
  • laufende Lieferung westlicher Fliegerabwehrsysteme

Phase 5: Gescheiterte ukrainische Sommeroffensive (Mai bis Oktober 2023)

  • laufende Lieferungen schwerer Waffen (vor allem „West-Systeme“) durch den Westen
  • russische Einnahme von Bakhmut (20. Mai)
  • gescheiterte ukrainische Offensive (ab 4. Juni) bei Zaporizhzhya, 
  • ukrainische Erfolge im Schwarzen Meer (Zurückdrängen der Schwarzmeerflotte)
  • massiver Einsatz von Drohnen auf beiden Seiten führt zu einem Erstarren der Fronten (Patt)
  • Ankündigung einer neuen Strategie durch die Ukraine (Defensive 2024/Offensive 2025)

Phase 6: Russland gewinnt Momentum zurück (November bis Frühjahr 2024)

  • zweite russische Winteroffensive (Ziel der Bindung ukrainischer Reserven/eines Durchbruches)
  • Einsatz von ca. 500 000 russischen Soldaten, russische Einnahme von Awdijiwka (17. Februar)
  • russische Angriffe, langsames Vorrücken 
  • Sicherheitsabkommen Deutschlands und Frankreichs mit der Ukraine („Langfristunterstützung“)

Analyse der Ebenen 

Um zu erfassen, wie sich die militärische Situation in bzw. nach der Phase 6 darstellt und welche Implikationen diese auf die künftige Entwicklung haben kann, gilt es, die strategische, operative und taktische Ebene zu betrachten.

Strategische Ebene 

Auf der strategischen Ebene war und ist es das Ziel der Russen, vor allem die Kritische Infrastruktur der Ukraine weiter zu zerstören. Sie haben dort angesetzt, wo sie am Ende der Ersten strategischen Luftkampagne im Winter 2022/2023 aufgehört haben. Damals ist es den russischen Streitkräften bereits gelungen, etwa 60 Prozent der Kritischen Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Russland versuchte in den vergangenen Monaten mit schweren Bombern, aber auch mit ballistischen Raketen und iranischen Drohnen, diese Einrichtungen weiter anzugreifen und zu vernichten. Man schätzt, dass die bis jetzt erreichten Zerstörungen bis zu 70 Prozent betragen.

Wie es scheint, konnte Russland eine stabile und konstante Produktionsrate bei gewissen Waffensystemen erreichen. Man nimmt an, dass sie aktuell zwischen 115 und 130 Marschflugkörper im Monat erzeugen, um diese Angriffe aufrechtzuerhalten. Zwei Beispiele machen deutlich, dass diese mittlerweile auch tief in das Hinterland geführt werden. Zunächst erfolgte ein schwerer Luftangriff im April 2024, bei dem Ziele bis in den Raum Lemberg bekämpft wurden. Eine ähnliche Situation ergab sich bei den letzten schweren Angriffen im Mai und Juni 2024, die ebenfalls in die Tiefe des Landes geführt wurden. Dazu ist festzustellen, dass die Abschussrate der ukrainischen Fliegerabwehr, die vor wenigen Monaten noch hoch war, mittlerweile zurückgegangen ist. Man geht davon aus, dass es zwar noch immer gelingt, bis zu 80 Prozent der iranischen Drohnen abzuschießen, aber nur mehr etwa 30 Prozent der Marschflugkörper und der ballistischen Raketen.

Operative Ebene 

Auf der operativen Ebene war es das Ziel der Russen, die Ukraine zu zwingen, entlang der gesamten Front, vor allem jedoch im Donbass, ihre kostbaren Reserven einzusetzen. Damit wollte die russische Seite verhindern, dass die Ukraine diese Kräfte zusammenzieht, um zu einem späteren Zeitpunkt in die Offensive gehen zu können. Eine solche hat die Ukraine für das Jahr 2025 vorgesehen. Russland bediente sich bei seinen Angriffen einer Reihe von operativen Gruppierungen, die gemeinsam versuchten, immer wieder an unterschiedlichen Stellen anzugreifen und so die ukrainischen Streitkräfte zum Einsatz ihrer Kräfte zu zwingen. 

Hinzu kommt, dass das russische Lagebild hinter der ukrainischen Frontlinie immer besser wird. Das ist auch der Grund, weshalb man immer mehr Videos sieht, auf denen zu erkennen ist, dass Hochwertwaffensysteme der Ukraine gezielt angegriffen und zerstört werden, wie ein HIMAR-System (High Mobility Artillery Rocke System) oder eine Batterie vom Typ „Patriot“. Diese Bilder können wiederum für den Propagandakrieg, der parallel zu jenem an der Front geführt wird, genutzt werden. Sie zeigen den russischen Soldaten und der Bevölkerung: „Wir können die westlichen Systeme besiegen!“

Taktische Ebene

Auf der taktischen Ebene, dort wo der tatsächliche Kampf und die Umsetzung der russischen Überlegungen und Planungen der operativen Ebene stattfinden, versucht Russland nicht nur an unterschiedlichen Stellen der Front anzugreifen, sondern auch unmittelbar dahinter zu wirken. Das erfolgt durch den Einsatz verschiedener Waffensysteme, wie Drohnen vom Typ „Lancet“, die in Kombination mit Aufklärungsdrohnen dafür sorgen, dass erkannte Waffensysteme und/oder Einrichtungen (egal ob Haubitzen, einzelne Fahrzeuge oder Munitionslager) gezielt angegriffen werden. 

Beim Angriff auf ukrainische Stützpunkte werden von Russland mittlerweile im großen Stil GLONASS-gesteuerte Lenkbomben eingesetzt. Diese werden zuvor mit einem einfachen Anbausatz in die Lage versetzt, dass sie bis zu einer Gewichtsklasse von 3 000 kg
von Flugzeugen aus eingesetzt werden können. Wenn eine derartige Bombe einschlägt, bleibt von einem Stützpunkt und dessen Besatzung kaum etwas übrig. Diese Lenkbomben haben in Kombination mit der Artillerie eine verheerende Wirkung. 

Ableitungen

Nach dieser kurzen Betrachtung der strategischen, operativen und taktischen Ebene ist die erste wesentliche Ableitung der Phase 6, dass der Ukraine-Krieg gegenwärtig eindeutig den Charakter eines Abnützungskrieges zeigt. Das Wesen eines Abnützungskrieges ist, dass er nicht auf ein Gebiet konzentriert erfolgt, sondern es vor allem darum geht, den Gegner – unter dem massiven Einsatz eigener Ressourcen – zu zwingen, möglichst viele Ressourcen zu verbrauchen. Da man auf lange Sicht gesehen – so die russische Bewertung – mehr davon hat und zudem auch mehr Gerät und Munition produzieren kann, ergibt sich ein wesentlicher strategischer Vorteil, der den Krieg (mit)entscheiden kann.

Ein anschauliches Beispiel, an dem man das festmachen kann, ist die Anzahl und der Einsatz von Artilleriemunition. Die Russen verschießen in den Schwergewichtsräumen aktuell bis zu 
10 000 Artilleriegranaten täglich, während die Ukraine nur mit etwa 2 000 Granaten dagegenhalten kann. Der Grund für dieses Ungleichgewicht sind vor allem die verzögerten Lieferungen von Artilleriemunition aus Europa und den USA sowie die kaum noch vorhandene Produktion von Artilleriemunition vor Ort.

Die Ukraine versucht durch den innovativen Einsatz von „First Person View“-Drohnen dagegenzuhalten. Diese haben aber nur eine Reichweite zwischen fünf und maximal zehn Kilometern, womit sie gegnerische Artilleriesysteme nicht erreichen, die hingegen auf eine Entfernung von mehr als 20 km wirken können. Somit können es die Ukrainer nicht verhindern, dass die russischen Streitkräfte ihre Artillerieelemente zusammenziehen und diese in weiterer Folge zum Einsatz bringen. In Kombination mit bereits genannten Waffensystemen, wie gelenkten Freifallbomben, können diese eine für die Ukraine verheerende Wirkung an der Front entfalten.

Verbesserte Einsatzführung

Erschwerend für die Ukraine ist der Umstand, dass die russische Seite in der Lage ist, ihre Waffensysteme zu verbessern. Mittlerweile setzt sie diese effektiv gegen ukrainische, vor allem vom Westen gelieferte, Waffensysteme ein. So hat die Wirksamkeit der an die Ukraine gelieferten westlichen Präzisionsbomben nachgelassen, weil es die russische Seite geschafft hat, deren GPS-Steuerung zu stören. 

Auch die westlichen „Storm Shadow“ bzw. „Scalp EG“-Marschflugkörper haben nicht mehr die Wirkung wie am Beginn des Krieges. Etwa die Hälfte dieser Systeme wird mit russischen Störsystemen vom Kurs abgebracht. Durch den zusätzlichen Einsatz von Fliegerabwehrsystemen können oft nur ein bis zwei von vier Raketen tatsächlich ihr Ziel treffen. Eine ähnliche Situation gibt es beim System HIMARS, das 2022 noch sehr effektiv war. Mittlerweile schießen die Russen bis zu 70 Prozent der mit diesem System abgefeuerten Raketen ab. Noch verheerender ist die Effektivität der endphasengesteuerten Artilleriemunition vom Typ „Excalibur“. Deren anfänglicher Wirkungsgrad von etwa 70 Prozent hat sich mittlerweile auf etwa sechs Prozent verringert. 

Der Grund für diese Situation ist, dass russische Störer in Kombination mit der Fliegerabwehr erfolgreich sind. Zusätzlich werden die abgeschossenen Waffensysteme analysiert und aufgrund dessen adäquate Gegenmaßnahmen getroffen. Hinzu kommt die Frage der Ressourcen, die eine wesentliche in diesem Abnützungskrieg ist. Hier ist der Umstand entscheidend, dass die russische Wirtschaft mittlerweile auf eine Kriegswirtschaft umgestellt hat. Man nimmt an, dass Russland bis zu acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes, etwa 35 Prozent der gesamten Staatsausgaben, für die Produktion von Waffensystemen aufbringt. Dabei verwendet man einerseits Systeme, die auf Halde liegen und nun modernisiert bzw. instandgesetzt werden, andererseits werden neue Systeme produziert. Diese Produktion ist nur möglich, weil Staaten wie China Ersatz- oder Bauteile liefern, die dann als technische Komponenten verbaut werden.

Europa und die USA liefern zwar Kriegsmaterial an die Ukraine, sind aber nicht bereit soweit in die Kriegswirtschaft überzugehen, dass eine große Anzahl von Rüstungsgütern produziert werden kann. Somit fehlen der Ukraine einerseits Güter bei ihrem Kampf gegen den Aggressor, andererseits aber auch den europäischen Streitkräften, damit sich diese wieder soweit hochrüsten können, um eine gewisse Abschreckungsfähigkeit zu erreichen. 

Fazit: Nach knapp 900 Tagen Krieg sind die russischen Streitkräfte im Moment im Angriff, und die Ukrainer sind gezwungen zu reagieren. 

Russisches Selbstvertrauen 

Die aktuelle Situation an der Front gibt der russischen Staatsführung ein Selbstvertrauen, das gleichzeitig auf die Gesellschaft wirkt. Ein Beispiel dafür sind die Feierlichkeiten am 9. Mai 2024, dem Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutsche Reich, in Moskau. Dort wurden dem Publikum zerstörte westliche Waffensysteme präsentiert, unter anderem ein Kampfpanzer „Leopard“ 2A6 oder ein US-Kampfpanzer vom Typ M1 „Abrams“. Diesen Stimmungswandel bestätigt auch ein Blick in die russischen sozialen Medien, wo sich nach dem Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive die Stimmung ebenfalls zugunsten der russischen Führung gewandelt hat. In Russland ist man offensichtlich davon überzeugt, diesen Krieg für sich entscheiden zu können. 

Aber nicht nur das russische Selbstvertrauen, auch die Anzahl der verfügbaren Kräfte hat enorm zugenommen. Aktuell verfügen die Streitkräfte Russlands, die sich im Einsatz in der Ukraine befinden, über ungefähr 

  •     510 000 Soldaten, 
  •     3 000 Kampfpanzer, 
  •     7 000 Kampfschützenpanzer, 
  •     5 000 Rohrartillerie-Systeme, 
  •     1 200 Mehrfachraketenwerfer,
  •     300 Kampfhubschrauber und 
  •     300 Kampfflugzeuge. 

Diese hohe Anzahl an Systemen und Soldaten müsste zuerst von den ukrainischen Streitkräften niedergekämpft werden, damit sie in die Offensive gehen können, um die besetzten Gebiete inklusive der Krim zurückzuerobern. Neue Berichte sprechen von einem Anstieg der russischen Soldaten im Juni auf 650 000 Mann.

Gefechtsbeispiele

In der Phase 6 waren einige Städte und Orte im Osten der Ukraine stark umkämpft. Die dortigen Ereignisse auf der gefechtstechnisch-taktischen Ebene bestätigen die bisherigen Folgerungen. 

Awdijiwka/Ocheretyne 

Die Stadt Awdijiwka wurde nach langem und hartem Kampf durch eine Einschließung der russischen Streitkräfte in Besitz genommen. Von dort aus setzten diese weiter Richtung Nordwesten nach Ocheretyne an. Es gelang den Angreifern im April 2024 in die zweite Verteidigungslinie der Ukraine einzudringen und diesen Raum zunehmend auszuweiten. Konkret versuchen sie den Einbruchsraum nach Norden, Westen und Süden so zu vergrößern, dass sie in weiterer Folge die zweite ukrainische Verteidigungslinie durchbrechen können. 

Tschassiw Jar

In der Ortschaft Tschassiw Jar, westlich der Stadt Bakhmut, die 2023 von den russischen Truppen erobert wurde, tobt der Kampf im Mai und Juni 2024, um die Höhen ostwärts dieses Ortes in Besitz zu nehmen. Um das zu erreichen, müssen sie aber zunächst einen künstlichen Kanal übersetzen, der drei Übergangsstellen hat. Nach wochenlangen zähen und verlustreichen Kämpfen, dürfte es den russischen Soldaten mittlerweile wiederholt gelungen sein, den Kanal zumindest mit Teilen zu überschreiten, einen Brückenkopf zu bilden und diesen Ansatz Richtung Westen weiter fortzuführen. Die Ukraine konnte diese Vorstöße bis jetzt immer noch bereinigen.

Charkiw Nord 

Eine völlig neue Situation hat sich im Norden der Ukraine ergeben. Dort ist eine neue russische Kräftegruppierung aufgetaucht, die mit etwa 400 Kampfpanzern, 1 000 Kampfschützenpanzern und 1 000 Artilleriesystemen ausgestattet ist sowie von zumindest 25 Kampfflugzeugen und 25 Kampfhubschraubern unterstützt wird. Diese Gruppierung, genannt Sever (Nord), hat damit begonnen, nördlich von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, anzugreifen und konnte bis Mitte Juni einen Geländegewinn von etwa sechs Kilometer erreichen.

Neue Phase 

Das Dilemma, das sich aus der gegenwärtigen Situation für die Ukraine ergibt, ist 

  • die Bildung einer – aus russischer Sicht – Pufferzone durch die Inbesitznahme von wesentlichen Geländeteilen nördlich Charkiw,
  • daraus resultierend die Verlängerung der Front um etwa 200 km, entlang derer die Ukraine gefordert ist, neue Kräfte und kostbare Reserven einzusetzen sowie
  • ein russischer Bereitstellungsraum, um in Zukunft – möglicherweise mit noch größeren Kräften – Richtung Charkiw antreten zu können. 

Daraus lässt sich die Folgerung ableiten, dass diese Entwicklungen den Übergang von der Phase 6 (zweite russische Winteroffensive) zur Phase 7, einer möglichen russischen Sommeroffensive, markieren. Das dürfte der Grund sein, weshalb der Leiter des ukrainischen militärischen Nachrichtendienstes, aber auch andere hohe ukrainische Offiziere, im Sommer 2024 einen russischen Angriff an verschiedenen Stellen erwarten. Dieser könnte z. B. nordwestlich von Charkiw erfolgen.

Wenn man die Angriffe der Phase 6 betrachtet, erkennt man, dass sich die russische Kampfführung auf der taktisch-operativen Ebene zunehmend an die Situation an der Front sowie an die dort eingesetzten ukrainischen Waffensysteme (westlicher Provenienz) anpasst. Man erkennt, dass die Russen in der Lage sind

  • mehr qualifizierte Infanterie („Sturmtruppen“) einzusetzen,
  • ihre Kampfpanzer an die Bedrohungen, die sie auf dem Gefechtsfeld (z. B. „First Person View“-Drohnen) erwarten, anzupassen,
  • ihre elektronischen Störsysteme effektiv einzusetzen sowie 
  • eine Überzahl an Artillerie, Gleitbomben und Drohnen zur Wirkung zu bringen. 

Fazit: Das gegenwärtige Momentum im Ukraine-Krieg liegt auf der russischen Seite. 

Geostrategische Dimension 

Während sich die Situation an der Front zuspitzt, stellt sich die Frage, ob die Verbündeten der Ukraine bereit und willens sind, weitere Ressourcen für diesen Abnützungskrieg zur Verfügung zu stellen. Diese Frage lässt sich jedoch nur in einem geostrategischen bzw. geopolitischen Ansatz erörtern.

Die gesamte geopolitische Tragweite zeigt sich, wenn man den Ukraine-Krieg vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung des globalen Südens gegenüber dem globalen Norden einordnet, der eindeutig erkennbar ist. In dieser sind die Ukraine, Gaza oder andere Räume mit Konflikten und/oder Kriegen stellvertretende Räume für die „große Auseinandersetzung“ von globaler Dimension. 

In dieser Situation versuchen vor allem die USA mit einer weltweiten Strategie zu verhindern, dass die globale Sicherheitslage außer Kontrolle gerät. Die Debatte um den Einsatz von westlichen Waffensystemen durch die ukrainischen Streitkräfte auf Ziele in Russland ist in diesem Rahmen zu verstehen. Das zeigt sich nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Nahen Osten, wo man auf Israel massiven Druck ausübt, damit sie die Bodenoffensive in Rafah nicht in einer eskalierenden Art und Weise starten. Die USA versuchen diese Konflikte zu moderieren. 

In diesem Zusammenhang spielt die Bewaffnung mit nuklearen Sprengkörpern von Konfliktparteien eine Rolle, konkret jene von Russland. Diese Bedrohung ist nicht völlig abstrakt. Als sich im Herbst 2022 die Situation für die russischen Kräfte im Raum Cherson derart zugespitzt hatte, sodass diese in einem Brückenkopf auf der anderen Seite des Dnepr unter Druck waren, stellten US-Nachrichten- und Geheimdienste die Erwägungen für einen möglichen Einsatz von taktischen Atomwaffen von russischer Seite fest. Glaubhaften Quellen zufolge waren es die Vermittlungen von China und Indien, die diese Situation entschärfen konnten. 

Dieses Beispiel zeigt, dass Russland immer wieder die atomare Karte zückt und damit versucht, den Westen in Angst und Schrecken zu versetzen. Aus diesem Grund tauchen unter anderem Videos von Atomwaffenübungen auf, mit denen Russland demonstriert, über welche Kapazitäten es verfügt. 

Hinzu kommt der Umstand, dass Russland in anderen Domänen der Kriegsführung Kapazitäten hat, die der Westen bisher nicht im Fokus hatte. Ein Beispiel ist die Domäne Weltraum. Laut US-Informationen hat Russland mittlerweile eine Anti-Satellitenwaffe in die Erdumlaufbahn gebracht. Somit verfügen sie über Fähigkeiten, die es dem Gegenüber (in diesem Fall den USA) erschweren, die globale Situation in ihrem Sinn zu beherrschen.

Verbündete und Unterstützer 

Vor diesem geostrategischen Hintergrund stellt sich die Frage nach der Effizienz der Verbündeten und Unterstützer. Der Westen verfügt über qualitativ hochwertige und sehr wirksame Systeme, wie HIMARS, ATACMS oder andere Präzisionswaffen. Hinsichtlich der Quantität gibt es jedoch ein Problem, das zumindest die Lieferungen an die Ukraine betrifft. Es gibt das militärische Prinzip der Übersättigung (Saturation). Demzufolge müssten Waffensysteme über eine gewisse Zeit in einer hohen Intensität mit messbaren Erfolgen eingesetzt werden, z. B. die massive Wirkung des HIMAR-Systems auf russische Munitionsdepots, um tatsächlich eine Rolle für den Verlauf des Krieges zu spielen. 

Während die Ukraine das Problem hat, dass sie westliche Waffensysteme nur punktuell und in begrenzter Anzahl bekommt, erhält Russland jenen Nachschub an Bauteilen, den es für die Produktion seiner speziellen Waffensysteme benötigt. Die russischen Hauptverbündeten sind China, aber auch der Iran, der tausende von „Shahed“-Drohnen an Russland geliefert hat, bevor in Russland eine eigene Fabrik gebaut wurde, um diese Drohnen zu erzeugen. Hinzu kommen Staaten wie Nordkorea, das etwa zwei Millionen Artilleriegranaten geliefert hat (Russland selbst hat im selben Zeitraum etwa drei Millionen Artilleriegranaten produziert). Die wesentliche Unterstützung seiner Verbündeten ermöglicht es Russland nicht nur, den Krieg in der bekannten Intensität weiterzuführen, sondern auch diesen immer weiter eskalieren zu lassen. 

Resümee

Die Situation in der Ukraine steht in diesem Jahr vor einem Kulminationspunkt. Aus militärischer Sicht ist das jener Punkt, den man vermeiden möchte, weil es kein Zurück gibt, sobald man diesen überschritten hat. Für die Ukraine bedeutet das konkret, dass man jene Ressourcen generieren muss, um gegenüber dem russischen Aggressor bestehen zu können. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Westen der Ukraine diese Ressourcen – Panzer, Kampfschützenpanzer, aber vor allem Munition – liefert, weil sie diese nicht selbst produzieren können. Zusätzlich benötigt die Ukraine eine funktionierende Luftabwehr, nicht nur ein oder zwei „Patriot“-Batterien, sondern mindestens fünf bis zehn, optimalerweise bis zu 25. Sie braucht mehr präzisionsgesteuerte Boden-Boden-Raketen und Präzisionsmunition. Und sie braucht vor allem mehr Soldaten, wenngleich die Frage der Mobilisierung in der Ukraine hitzig diskutiert wird. Gelingt das nicht, dann werden die russischen Streitkräfte weitere Gebietsgewinne machen. 

Das Wissen um den Ernst dieser Situation zeigt sich in den Aussagen ukrainischer Offizieller, egal ob es sich um Präsident Selenskyi oder um Vertreter des Militärs handelt, die immer desperater werden. Sie wissen, dass es nur mit einer massiven westlichen Militärhilfe möglich sein wird, jene Situation der Stärke zu erreichen, die Waffenstillstands- oder sogar Friedensverhandlungen ermöglichen. Deshalb versuchte die Ukraine, wie in der Friedenskonferenz von Bürgenstock (Schweiz) vom 15. und 16. Juni 2024, möglichst viele Verbündete zu sammeln, um ein Bild der Stärke und Entschlossenheit zu vermitteln. Die nächsten Monate werden für die Ukraine entscheidend sein!

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD; Leiter Institut 1 an der Theresianischen Militärakademie


Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 3/2024 (399).

Zur Ausgabe 3/2024 (399)

 

 


 

Ihre Meinung

Meinungen (0)