Ukraine-Krieg: Offensive, aber wie?

Die Ukraine hat es in den vergangenen Monaten, bzw. im vergangenen Jahr geschafft, die Räume Kiew, Charkiw und Cherson zurückzuerobern. Nun stellt sich die Frage, wie es weitergeht und ob es der Ukraine gelingen wird, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Damit verbunden ist die Frage, ob es mit den bereitgestellten Kräften – auch mit dem westlichen Militärgerät – gelingen kann, in die Offensive zu gehen.
Russische Winteroffensive
Die russische Winteroffensive der vergangenen Monate war der Versuch mit Schwergewicht im Donbass Richtung Westen anzugreifen, um die beiden Oblaste Luhansk und Donezk zur Gänze in Besitz zu nehmen. Die Russen wählten für ihre Angriffe mehrere Schwergewichtsräume. Diese waren im Süden bei Wuhledar und im Zentralraum bei Awdijiwka und Bachmut, wo sich die Kämpfe besonders zugespitzt haben, sowie in weiterer Folge bei Siwersk.
Offensichtlich war es die russische Absicht, die Ukraine zu zwingen, ihre bereitgestellten Reserven – und damit auch das Material, das aus dem Westen geliefert wurde – einzusetzen. Konkret sollte diese in die Reichweite ihrer stärksten Waffe, das ist nach wie vor die Artillerie, gelockt werden.
Situation im Süden
Bei Wuhledar versuchten die russischen Streitkräfte einen signifikanten Raumgewinn durch einen Zangenangriff zu erzielen sowie aus dem Süden und Norden vorzustoßen. In beiden Angriffen ist es nicht gelungen, die ukrainischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen, jedoch mussten die russischen Kräfte schwere Verluste hinnehmen.
Bei diesen Aktionen hat sich folgendes gezeigt: Wenn der Angreifer versucht in die Offensive zu gehen, der Verteidiger jedoch gut einrichtet ist, eine gute Taktik anwendet und das Gelände nützt, kann er dem Angreifer schwere Verluste beibringen. Zusätzlich dürfte die russische Seite erkannt haben, dass es mit den zugeführten Reservisten kaum möglich ist, operative Räume zu gewinnen. Schließlich sind die Reservistenverbände hinsichtlich ihrer Qualität auf dem Gefechtsfeld nicht mit den Kräften zu vergleichen, die am Beginn des Krieges zur Verfügung standen.
Situation im Zentralraum
Im Zentralraum hat Russland versucht Bachmut von mehreren Seiten zu umfassen. Das geschah, ähnlich wie bei Wuhledar, mit einem Angriff im Süden und im Norden. Nach mehreren Wochen schwerer Kämpfe konnte im März 2023 bei Soledar ein Durchbruch erzielt werden. Dieser führte – wie der Durchbruch bei Popasna 2022, der zur Schlacht von Lyssytschansk und Sjewerodonezk führte – zum Ergebnis, dass die russischen Streitkräfte Bachmut beinahe zur Gänze einkesseln konnten.
Danach waren die Russen gezwungen ihre Kräfte umzugruppieren, da die Ukraine westlich von Bachmut Reserven bereitgestellt hatte. Im Zuge dessen wurden Fallschirmjägerkräfte im Norden und im Süden des Kessels platziert, während Teile der Wagner-Gruppe zentral Richtung Westen angreifend, versuchten Häuserblock für Häuserblock einzunehmen. Die Reaktion der Ukraine war der Versuch mit bereitgestellten Kräften selbst in die Offensive zu gehen. Diese Angriffe wurden jedoch abgewehrt. Schließlich mussten sich die ukrainischen Kräfte, nach intensiven und verlustreichen Kämpfen, beim zentralen Vorstoß der Wagner-Kräfte im urbanen Raum absetzen. Am 20. Mai 2023 hatten die Russen Bachmut in Besitz genommen haben.
Nach den Ansätzen im Süden und im Zentrum ergibt sich die Frage, ob die weitere russische Angriffsführung auch im Norden oder an einer anderen, für sie günstigen Stelle stattfinden könnte. An der zweiten Verteidigungslinie im Zentralraum bei Bachmut gibt es bei Awdijiwka eine ähnliche Situation wie bei Bachmut. Zusätzlich könnten die Russen den Frontvorsprung im Raum Siwersk mit einer Zangenbewegung in Besitz nehmen.
Krieg im Informationsraum
Für die weitere Einschätzung des Kriegsverlaufes ist es entscheidend, das Center of Gravity beider Kriegsparteien zu erkennen, zu bewerten und daraus Folgerungen abzuleiten. Moderne Kriege werden in mehreren Domänen geführt. Eine Domäne, die es zu beherrschen gilt, ist der Informationsraum. Der Fall von Bachmut ist ein anschauliches Beispiel dafür.
Das Center of Gravity der Ukraine ist die Unterstützung des Westens. Diese wird aber nur erfolgen, wenn der Westen davon überzeugt ist, dass das Sinn macht und der Erfolg der Ukraine wahrscheinlich ist. Das Center of Gravity der Russen ist die Loyalität der Bevölkerung. Sie muss treu zum Regime stehen und die Kriegsführung zumindest dulden. Beide Seiten werden versuchen eine Gefährdung ihres Centers of Gravity zu verhindern, jedoch gleichzeitig auf das gegnerische einwirken, um dieses zu schwächen.
Unmittelbar nach der Einnahme von Bachmut drangen angebliche russische Freiwillige bei Belgorod auf russisches Territorium vor und nahmen dort Räume in Besitz. Erst zwei Tage später konnten diese Elemente von der russischen Seite zerschlagen werden. Wesentlich war aber nicht der militärische Erfolg des Vorstoßes, sondern dessen kommunikativer Erfolg im Informationsraum.
Der russische Erfolg in Bachmut konnte durch das vermeintliche russische Fiasko bei Belgorod und Schebekino, aber auch mit den ukrainischen Drohnenangriffen in Richtung Moskau verdeckt werden. Zusätzlich wurde der Krieg damit ein Stück weit nach Russland getragen. Das war der ukrainische Versuch mit einer Informationsoperation wirksam zu werden. Konkret sollte das eigene Center of Gravity nicht geschwächt werden, das gegnerische jedoch sehr wohl.
Ukrainische Frühjahrsoffensive
Viel wahrscheinlicher als der bereits angesprochene russische Vorstoß bei Siwersk ist jedoch, dass es in den nächsten Wochen und Monaten zu einer ukrainischen Offensive kommt. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang für die Ukraine stellen, sind: Was ist zu tun, wo ist anzugreifen und welchem Plan ist zu folgen?
In Expertenkreisen ist man unisono der Meinung, dass es sich anbieten würde die russisch besetzten Gebiete zu teilen. Dies könnte durch einen zentralen Ansatz ostwärts von Saporischschja in Kombination mit einem neuerlichen Angriff auf die Brücke über die Straße von Kertsch erfolgen. Damit wären auch die zwei wichtigen Bewegungslinien und Versorgungslinien Richtung Süden unterbrochen. Für die Russen wäre es dann sehr schwierig ihre Kräfte im Süden zu versorgen. Ein weiterer Vorteil wäre, dass mit dem Fluss Don eine wichtige Handelsroute über die Straße von Kertsch Richtung Bosporus führt. Würden es die ukrainischen Kräfte schaffen, das Asowsche Meer zu erreichen, könnten sie auf diese Handelsroute einwirken und hätten damit ein Druckmittel gegenüber Russland.
Aufgrund der Entwicklungen in den vergangenen Monaten lässt sich ableiten, dass auch die ukrainische Offensive von Ablenkungsmaßnahmen begleitet werden wird. Die Ukraine wird wohl versuchen, an mehreren Stellen der Front anzugreifen und gleichzeitig auch in Russland wirksam zu werden, um die maximale Bindung der russischen Kräfte zu erzielen. Dazu sind zunächst die drei Faktoren Überraschung, Täuschung und Ablenkung entscheidend. Die russischen Kräfte müssen so lange wie möglich im Unklaren darüber gelassen werden, wo der ukrainische Hauptstoß erfolgt. Danach ist die Geschwindigkeit entscheidend. Alles muss sehr rasch passieren, damit die Russen von den Ereignissen, mit denen sie konfrontiert werden, überwältigt sind. Das benötigt eine exakte Synchronisation der einzelnen Maßnahmen, die als Gesamtansatz zum Erfolg führen.
Am Beispiel der Ostukraine könnte eine Offensive wie folgt aussehen: Zunächst wäre Russland gefordert die laufenden Angriffe auf sein Territorium abzuwehren, wodurch russische Kräfte gebunden wären. Danach könnte eine amphibische Anlandung im Süden erfolgen, die Russland zwingt erneut Kräfte bereitzustellen, um diese abzuwehren. Danach könnte es einen plötzlichen Vorstoß im Nordosten, z. B. in den Raum Kupjansk geben, der die Russen ebenfalls dazu zwingt Kräfte in Stellung zu bringen. Der (vermeintliche) Hauptstoß könnte im Raum Saporischschja erfolgen, kombiniert mit einem Angriff auf die Brücke über die Straße von Kertsch. Aber selbst dieser wäre nur ein Ablenkungsangriff, damit die Russen auch dort Reserven einsetzen. Der zentrale Stoß könnte schließlich im Raum Mariupol stattfinden, wo die ukrainischen Kräfte mit ihrem Schwergewicht rasch bis zum Asowschen Meer durchzustoßen könnten.
Der große Vorteil für die Ukraine ist der Kampf an der inneren Linie. Sie kann aus ihrem Zentralraum relativ rasch Kräfte an dieser inneren Linie einsetzen, während die Russen über die äußere Linie – und somit über deutlich weitere Entfernungen – ihre Kräfte zuführen muss. Die ukrainische Idee ist sicherlich, auch an der äußeren Linie so viele russische Reserven wie möglich zu binden, um die Erfolgsaussichten des eigenen Angriffes zu erhöhen.
Game Changer
Im Zusammenhang mit den bisherigen Ausführungen stellen sich die Fragen: Hat die ukrainische Offensive schon begonnen und wie wird sie sich darstellen? Eine militärische Offensive grundsätzlich drei Phasen hat. Die erste ist die Vorbereitungsphase (shaping phase), die zweite ist die Entscheidungsphase (decision phase), danach erfolgt als dritte die Konsolidierungsphase (enduring phase).
Die Ereignisse der letzten Wochen und Monaten zeigen, dass die Ukraine zumindest mit der Vorbereitungsphase begonnen hat. So erfolgten der bereits dargestellte Angriff auf das russische Territorium sowie die Drohnenangriffe auf Moskau. Zusätzlich versuchte die Ukraine mit „Storm Shadow“-Raketen in den russisch besetzten Gebieten Logistikpunkte (Lager für Munition oder Treibstoffe) und Gefechtsstände anzugreifen. Darüber hinaus versuchte sie entlang der Front mit kleinen Elementen vorzustoßen, um die russischen Verteidigungsstellungen aufzuklären. Zu guter Letzt stationierte die Ukraine Fliegerabwehrsysteme in Frontnähe, damit sie dort geschützte Räume für die Bereitstellung ihrer Landstreitkräfte hat, bevor diese angreifen.
Die Ukraine hat in einigen Domänen Vorteile. So ist es gelungen, neuerlich Landstreitkräfte zusammenzuführen, die Brigaden der Offensive. Sie konnte eine verlässliche Kommunikation aufrechterhalten, nicht zuletzt wegen Starlink, das für ihre Truppen wichtig ist. Zusätzlich gelingt es der Ukraine den Informationsraum zu dominieren. Das haben die Ereignisse um Belgorod oder die Drohnenangriffe auf Moskau gezeigt, wo sie die Initiative übernehmen konnte. Der Ukraine gelingt es zudem ihren Cyberraum zu sichern, in dem ebenfalls Angriffe stattfinden. Sie hat jedoch Schwierigkeiten in den Domänen See und Luft, wo die Russen im Vorteil sind.
Auf beiden Seiten gibt es mögliche Game Changer. So kann die Ukraine, abgesehen von ihren HIMARS-Systemen, mit reichweitengesteigerten Bomben mittlerweile auf 160 km wirksam werden. Zusätzlich verfügt sie mit den „Storm Shadow“-Raketen über ein System, das gezielt Logistik-Punkte und Gefechtsstände angreifen kann. Entscheidend ist auch, dass neun der zwölf Brigaden der Offensive mit westlichem Gerät ausgestattet sind, wie dem Kampfschützenpanzer „Bradley“.
Die russische Seite hat in den vergangenen Monaten ebenfalls aus ihren Erfahrungen gelernt und die Einsatzführung adaptiert. Sie verwendet mittlerweile ferngelenkte Bomben, setzt die Artillerie – ihre große Stärke – zielgerichtet ein, oder bringt die elektronische Kampfführung wirkungsvoll zum Einsatz. Wesentlicher ist jedoch der Umstand, dass die Russen ihre Verteidigungsstellungen entlang der 1.200 km langen Frontlinie umso stärker ausbauen können, je länger die Ukraine mit der Offensive wartet. Das tun sie an verschiedenen Stellen, etwa bei Melitopol. Dort gibt es tief gestaffelte Verteidigungslinien, die aus Panzergräben, Minenfeldern, Drachenzähnen, aber auch Schützengräben bzw. Stellungen für Panzerabwehrlenkwaffen oder Kampfpanzer bestehen.
Russische Luftkampagne
Die Masse der bisherigen Betrachtungen behandelte die taktisch-operative Ebene. Es gibt aber auch die strategische Ebene, auf der seit 10. Oktober 2022 eine russische Luftkampagne stattfindet. Deren Ziel ist es die Kritische Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Alleine im Mai 2023 gab es im Raum Kiew 21 Luftangriffe.
Durch die Fliegerabwehrsysteme des Westens konnte die Ukraine ihren Abwehrerfolg steigern. Sie gibt an, dass 93 Prozent der ballistischen Raketen, Marschflugkörper und Drohnen abgeschossen werden konnten, realistisch ist eine Abschussrate von etwa 80 Prozent. Das ist zwar ein hoher Wert, bedeutet aber gleichzeitig, dass etwa 20 Prozent ihr Ziel erreichten. Zusätzlich muss die Ukraine damit rechnen, dass die Luftangriffe nicht aufhören werden. Es gibt Schätzungen, dass die Russen pro Monat etwa 100 Marschflugkörper erzeugen. Hinzu kommen die relativ billig gefertigten iranischen Drohnen, die oft eingesetzt werden, um die Fliegerabwehr zu sättigen, damit die Marschflugkörper ihre Ziele treffen.
Fazit
US-Generalstabschef Mark Milley, meinte, dass die Herausforderung für die Ukraine in Hinblick auf die Offensive eine gewaltige sei und sie einige Hindernisse zu überwinden habe, um diese erfolgreich zu führen. Die amerikanische Strategie ist, dass sie gezielt aber portioniert Waffensysteme an die Ukraine liefert. So soll eine Symmetrie auf dem Gefechtsfeld gewährleistet werden, ohne die russische Seite in die Enge zu treiben.
Die Lage für die Ukraine ist aktuell sehr ernst. Die Frühjahrsoffensive der ukrainischen Streitkräfte stellt, egal in welcher Form diese stattfinden wird bzw. stattfindet, jedenfalls einen Kulminationspunkt dar. Dabei wird entschieden, wie sich der zukünftige Kriegsverlauf – zumindest in den nächsten Monaten – darstellen wird.
Update (Stand: 17. Juli 2023)
Die Ukraine hat am 4. Juni 2023 an drei Stellen mit der entscheidenden Phase ihrer Landoffensive begonnen. Während die beiden Vorstöße nördlich Melitopol und Mariupol in den umfangreichen russischen Minenfeldern und dem Abwehrfeuer von Panzerabwehrlenkwaffen und Kampfhubschraubern liegen blieb, arbeiten sich die Ukrainer nordwestlich und südwestlich von Bakhmut langsam vor. Begünstigend ist dabei der Umstand, dass die russischen Kräfte der 106. Luftlandedivision dort zuvor nicht so umfangreiche Abwehrstellungen anlegen konnten. Sie hatten das Gebiet erst kurz zuvor selbst in Besitz genommen. Die Ukrainer nützen diesen Vorteil nun für sich aus. Gegliedert in kleinen Stoßtrupps erobern die 5. Sturmbrigade und die 3. "Azov" Sturmbrigade, sowie die 57. motorisierte Brigade langsam Meter für Meter zurück. Ein Beispiel dafür ist der neuerliche Angriff auf die Brücke über die Straße von Kertsch in den Morgenstunden des 17. Juli 2023. Die Verluste der Ukraine sind hoch. So wurden bis jetzt ca. 20 Prozent des vom Westen für die Offensive bereitgestellten Geräts (darunter etwa zehn Leopard 2A4 und A6, 35 Kampfschützenpanzer M2 Bradley und über achtzig minengeschützte Fahrzeuge) vernichtet.
Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, dzt. Kommandant der Garde in Wien.