ZMSBw: Zentrum für Militärgeschichte bei der Bundeswehr
Potsdam ist in den Köpfen vieler immer noch ein Synonym für Preußens Glanz und Gloria. Allerdings wird diese Sicht allein der Stadt mit ihren rund 170 000 Einwohnern längst nicht mehr gerecht. Heute bezeichnet sich Potsdam, jetzt Hauptstadt des Landes Brandenburg, gern als Wissensstadt. Denn es beherbergt mittlerweile eine Universität, vier Fachhochschulen und 40 wissenschaftliche Einrichtungen – darunter Max-Planck- und Fraunhofer-Institute, Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft sowie der Helmholtz-Gemeinschaft und das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). Insgesamt sind in Potsdam mehr als 10 000 Menschen im Bereich der Wissenschaft tätig.
Der Name ist ein wenig sperrig: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, kurz: ZMSBw. Andererseits hätte es, was den Standort – die Villa Ingenheim in Potsdam – betrifft, kaum passender kommen können: 1304 erstmals urkundlich erwähnt, 1849 von Gustav Adolf Wilhelm Graf von Ingenheim ausgebaut, wurde das Anwesen 1894 vom kaiserlichen Haus Hohenzollern als Familienresidenz erworben. Seit dem 3. Oktober 1990 ist nun die Bundeswehr dort Hausherr. Zunächst diente der Gebäudekomplex dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, dem Vorläufer des ZMSBw, als Außenstelle. 1994 verlegte das Amt dann von Freiburg i. Br. nach Potsdam. Bis 1999 wurden Villa, Marstall und die Beamtenhäuser aufwändig restauriert. Ein moderner Bibliotheksbau im ehemaligen Reitstall schloss die Modernisierungen 2007 ab. Ein entscheidender Schritt folgte im Jahr 2013, als das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (damaliger Sitz in Strausberg) in Potsdam zusammengelegt wurden.
Heute sind zirka 140 Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für das ZMSBw in der früheren Residenz- und heutigen brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam tätig – darunter 90 Wissenschaftler. Das Zentrum ist eine Ressortforschungseinrichtung der Bundesrepublik Deutschland und untersteht dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg). Es betreibt militärhistorische Grundlagenforschung sowie militärsoziologische und sicherheitspolitische Forschung für die Bundeswehr. Wissenschaftlich analysiert wird die deutsche Militärgeschichte mit Schwerpunkt Erster und Zweiter Weltkrieg (1914 - 1918 /1939 - 1945) sowie die Militärgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, inklusive der jeweiligen Bündnisse. Die Geschichte der jüngsten Einsätze der Bundeswehr, ihre Dokumentation und auch Begleitung stellen besondere neue Herausforderungen an das Haus.
Zum einen sind dabei, wie das ZMSBw es formuliert, „die Standards der allgemeinen Geschichtswissenschaft unter Berücksichtigung der Wechselbeziehungen zwischen Militär, Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Öffentlichkeit“ Maßstab der Arbeit. Daneben will das Zentrum „einen Beitrag zur Fortentwicklung der Militärsoziologie und der Sicherheitspolitik“ sowie zur wissenschaftsbasierten Politikberatung von Regierung und Parlament leisten. Die beiden Säulen des Hauses, die geschichts- und die sozialwissenschaftliche Forschung, stehen in einem wechselseitigen Austausch. Die wissenschaftliche Arbeit findet auf der Grundlage der grundgesetzlich verbrieften Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre sowie der von der Bundesregierung anerkannten Exzellenzkriterien wissenschaftlicher Forschung statt. Der Doppelcharakter des ZMSBw als zentrale Forschungseinrichtung des Bundes und weisungsabhängige militärische Dienststelle als Teil der Bundeswehr steht hierzu nicht im Widerspruch. Forschungsfelder und Rahmenbedingungen können zwar bedarfsorientiert vorgegeben werden, nicht jedoch die Wahl der Methoden sowie die Forschungsergebnisse und deren Darstellung. Die Forschungsarbeit trägt internationalen Standards ihrer jeweiligen Disziplin Rechnung und wird durch adäquate Verfahren zur Qualitätssicherung fortlaufend evaluiert. Damit wirkt das Zentrum am wissenschaftlichen Diskurs über die Rolle der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft bestimmend mit.
Forschungseinrichtung und militärische Dienststelle sind kein Widerspruch
Eines der Fundamente hierfür ist die Etablierung des ZMSBw am Wissenschaftsstandort Potsdam und die damit verbundene Integration in die Forschungslandschaft der Region sowie eine enge Zusammenarbeit mit dem ersten Lehrstuhl für Militärgeschichte in Deutschland an der Universität Potsdam. Denn seit den 90er Jahren hat das Interesse an sozialen Strukturen und Lebenswelten des Militärs zu einer Renaissance dieses Zweiges der Geschichtswissenschaft geführt. Zuvor beschränkte sich die Beachtung im Wesentlichen auf die Bundeswehr und deren wissenschaftliche Einrichtungen. Das ZMSBw dient heute sowohl dem BMVg und den Streitkräften als auch der Fachwissenschaft und der Öffentlichkeit. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden dem Ministerium als Informationen, Entscheidungshilfen und Beratungsleistungen zur Verfügung gestellt. Das Zentrum begleitet und unterstützt die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Arbeitsergebnisse werden von Fachverlagen wie auch vom ZMSBw selbst publiziert und so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Nutzung neuer Medien für die Lehre, die historische Bildung der Soldatinnen und Soldaten und die Einsatzunterstützung soll künftig in allen Forschungsfeldern mit Hilfe anwenderorientierter Konzepte verstärkt werden. Dabei geht es vor allem um die Erarbeitung elektronischer Publikationen, von Informationsplattformen und -hilfen sowie Onlinedatenbanken zu relevanten militärhistorischen und sozialwissenschaftlichen Themen. Und last but not least steht die Pflege partnerschaftlicher Beziehungen zu ausländischen Streitkräften im Bereich der Militärgeschichte und Sozialwissenschaften auf der Agenda des Zentrums obenan. Ob Australien, die Volksrepublik China oder NATO-Partner, ob Afrika oder der amerikanische Kontinent – das Netzwerk ist global. Eine besondere Stellung nimmt die Kooperation mit der Landesverteidigungsakademie des Österreichischen Bundesheeres ein.
Fazit: Die Forschung, die Erstellung wissenschaftlicher Expertisen für die politische Leitung und militärische Führung, die historische und sozialwissenschaftliche Fachberatung sowie die Information von amtlichen Stellen und der Öffentlichkeit sind Hauptaufgaben des ZMSBw. Hinzu kommen die Entwicklung der historischen und sicherheitspolitischen Bildung der Soldatinnen und Soldaten sowie die Begleitung und Unterstützung der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Diese Aufgaben begründen die einzigartige Stellung des ZMSBw als die zentrale wissenschaftliche Institution im Geschäftsbereich des BMVg für militärgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Forschung sowie für die Aus- und Weiterbildung in diesen Fachgebieten.
Mag. Jürgen R. Draxler ist Fregattenkapitän d. R.
TRUPPENDIENST-Interview:
"Nicht alles was Geschichte ist, ist auch Tradition"
Kapitän zur See Dr. Jörg Hillmann ist seit September 2017 Kommandeur des ZMSBw. Mit ihm sprach TRUPPENDIENST über die Aufgaben und das Selbstverständnis seines Hauses, den Spagat zwischen wissenschaftlicher Institution und einer in die militärische Hierarchie integrierten Dienststelle. Wir wollten erfahren, ob im ZMSBw für den Elfenbeinturm der Wissenschaft gearbeitet wird oder ob auch Greifbares für die Soldaten beziehungsweise die militärische sowie die politische Führung herauskommt. Das Gespräch führte unser Deutschlandkorrespondent, Fregattenkapitän d. R. Jürgen R. Draxler.
Der promovierte Historiker Jörg Hillmann (56) ist bekennender Bremer, der in Potsdam arbeitet und in Hamburg lebt. Hillmann (Crew VII/82) wurde zunächst zum Marinesicherungsoffizier ausgebildet, fuhr dann als Artillerieoffizier auf dem Zerstörer HESSEN, war Ausbildungsoffizier auf dem Schulschiff DEUTSCHLAND und Kompaniechef (4. Marinekompanie) beim Wachbataillon beim Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), damals in Siegburg. Er studierte an der Bundeswehruniversität Hamburg (heute Helmut-Schmidt-Universität) Geschichte und Sozialwissenschaften. Seine weiteren Verwendungen waren als Lehrer für Militärgeschichte, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bundeswehruniversität Hamburg, im Dezernent im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters bei der NATO und EU in Brüssel, als Referent im Führungsstab Streitkräfte im BMVg, als Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr sowie als Capability Manager und Head of Unit (Land and Maritime Domains) in der EU-Verteidigungsagentur in Brüssel.
Truppendienst (TD): Das ZMSBw ist für die historische und politische Bildung in den Streitkräften zuständig. Wie erreichen Sie die junge Generation, die nur wenig Gedrucktes liest?
Hillmann (H): Unsere Zuständigkeit haben Sie richtig wiedergegeben. Für diesen Auftrag arbeiten wir auf, was die historische Grundlagenforschung liefert. Man kann beispielsweise über den Feldzug in Nordafrika im Zweiten Weltkrieg ein dickes Buch schreiben. Das trifft jedoch nicht das Leseverhalten unserer jungen Soldatinnen und Soldaten. Daher haben wir beispielsweise beim Reclam-Verlag eine neue Reihe aufgelegt, die sich – so auch ihr Name – mit den „Kriegen der Moderne“ befasst. Das heißt: Wir geben kürzer und leichter lesbar Themen in die historische Bildung hinein, wie jüngst zum Feldzug in Nordafrika. Derartiges kann man aber nur machen, wenn man auf solide quellengestützte Grundlagenforschung zurückgreifen kann. Die wird maßgeblich in der Abteilung Forschung (siehe Grafik S. 195) betrieben. Dort setzen wir uns einerseits mit der Militärgeschichte bis 1945 auseinander und in einem weiteren Fachbereich bis 1989/1990, wobei hier unter anderem der Bereich der Militärgeschichte der DDR verortet ist. Des Weiteren haben wir mit der Abteilung Einsatz einen Bereich, der sich mit der jüngsten Militärgeschichte beschäftigt, also mit der Zeit ab 1990. Dahinein fallen die Einsätze der Bundeswehr, wie Afghanistan oder der Kosovo-Krieg, zu dem wir auch gerade ein kleines handhabbares Buch für die Truppe herausgebracht haben. Die Historische Bildung liegt mir besonders am Herzen. Ich bin, als ich hier das Kommando übernommen habe, gefragt worden, wie viel historisches Wissen ein Soldat braucht. Ich habe geantwortet, dass die Frage eigentlich anders lauten müsste, nämlich: Wie viel historisches Wissen braucht ein deutscher Staatsbürger? Ein junger Soldat, eine junge Soldatin tritt mit etwa 18 Jahren in die Streitkräfte ein. Man kann nicht erwarten, dass er oder sie am ersten Tag des Soldatseins zeitgleich mit dem Anpassen der Uniform das gesamte historische Wissen über die deutschen Streitkräfte internalisiert hat.
Es ist ein Lernprozess, den wir hier anstoßen müssen, denn wir können nur auf dem aufbauen, was vorhanden ist. Und wenn wir uns ansehen, was an historischem Wissen aus den allgemeinbildenden Schulen - sowie den Elternhäusern - mitgebracht wird, dann ist das für uns heutzutage eine schwierige Aufgabe. Das mangelnde historische Verständnis unserer Bevölkerung, dem wir mit unterschiedlichsten Mitteln – auch durch die Medien – zu begegnen versuchen, führt, wenn wir nicht aufpassen, dazu, dass unsere jungen Menschen sehr schnell Opfer von Demagogen und denen werden, die ein besseres Leben versprechen – weil ein ganz bestimmtes Grundwissen nicht mehr gegeben ist. Für die Bildungsarbeit sind auch die mir unterstellten Museen in Dresden und in Berlin-Gatow, neben ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit wichtig.
TD: Das ZMSBw betreibt - auftragsbezogen - neben der militärhistorischen Grundlagenforschung sicherheitspolitische und militärsoziologische Forschung für die Bundeswehr. Geschichte und Soziologie sind zwei eigenständige Disziplinen. Wie passt das zusammen?
H: Gerade im Bereich der jüngsten Militärgeschichte haben wir viele Schnittmengen mit unseren Sozialwissenschaftlern. Im Jahr 2013 fusionierten das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) in Potsdam und das Sozialwissenschaftliche Institut (SoWi) in Strausberg. Ebenso wie früher das SoWi erhalten wir auch heute Aufträge aus dem Ministerium, bestimmte Befragungen durchzuführen. Die Befragung, die seit vielen Jahren und am längsten läuft, ist die sogenannte Bevölkerungsumfrage, also wie die Bürger unser sicherheitspolitisches Umfeld sehen und wie hoch ihr Vertrauen in das sicherheitspolitische Tun unseres Staates und in unsere Streitkräfte ist. Dabei haben wir, wie der Sozialwissenschaftler sagt, ein großes n (Statistik: Größe der Grundgesamtheit, Anm.) Das bedeutet, unsere Stichproben sind sehr valide, was unsere Glaubwürdigkeit stärkt.
TD: Für die weitere Ausrichtung des Hauses haben sie jüngst eine Agenda 2028 (Weisung für die wissenschaftliche Arbeit des ZMSBw – aktueller Zeitraum: 2018 - 2028, Anm.) erarbeitet.
H: Wir haben im letzten Jahr vier Leuchtturmprojekte angeschoben, angelegt bis 2028. Die sind übergreifend im Hause verortet und nicht an bestimmte Fachbereiche gebunden. Beim ersten Projekt geht es um „Militär und Gewalt“. Dahinein spielt auch das Thema „Militär und Verbrechen“. Wir wollen feststellen, wie es dazu kommt, dass Menschen in einem Krieg verrohen. Hier wird deutlich, dass es sich nicht nur um eine historische Themenstellung handelt, sondern um eine, deren Beantwortung sozialwissenschaftlich unterfüttert werden muss. Untersucht wird die Zeitspanne von 1815 bis heute. Das zweite Projekt befasst sich damit, wie Gesellschaften mit ihren Veteranen umgehen. Es gibt hier sehr unterschiedliche Mechanismen, die ineinandergreifen. Das berührt auch die Frage der sogenannten Traditionsverbände. Nach 1871 entstanden schon einige Kriegervereine, nach dem Ersten wie dem Zweiten Weltkrieg gründeten sich Traditionsverbände – wobei Letztere eine Wirkung bis in die Bundeswehr hinein hatten. Das dritte Projektthema ist die „Multinationalität“. Ein Thema, das für uns heute in der Bundeswehr eine besondere Bedeutung hat, aber keine heutige Erfindung ist. Multinationalität haben bestimmte Teilstreitkräfte bereits in den 50er-, 60er- oder 70er-Jahren abgebildet.
TD: Und weiter zurück. So beispielsweise im Zweiten Deutsch-Dänischen Krieg (1864), als Österreich den Deutschen auf See zu Hilfe eilte, sie aber auch zu Lande unterstützte - wobei Preußen und Österreich allerdings zwei Jahre später gegeneinander Krieg führten.
H: Genau in diese Richtung wollen wir gehen und fragen: Was gab es damals – also vor dem Ersten Weltkrieg – für Koalitionen? Was waren die Beweggründe, derartige Koalitionen einzugehen, wie brüchig oder stabil haben sie sich dargestellt, und hatten sie gegebenenfalls Auswirkungen in weitere Zeitläufe? Auch dort wollen wir 1815 beginnen. Dabei geht es nicht darum, Jahr für Jahr abzuzählen, sondern um die großen Linien.
Das vierte Thema lautet: „Wie begegnet das Militär neuen Herausforderungen?“ Wir wollen die Frage beantworten: Was sind neue Kriege? Bei Besuchen im Ausland haben wir festgestellt, dass manche Länder militärhistorisch nur darauf zielen, aus dem Vergangenen für die Zukunft zu lernen, um den nächsten Krieg besser zu bestehen. Das ist nicht unser Ansatz. Jeder Krieg ist anders als der vorangegangene und folgt anderen Gesetzmäßigkeiten. Doch wie verarbeitet Militär neue Herausforderungen, was ist die Gedankenwelt der Menschen, die im Militär dienen? Diese vier Leuchtturmprojekte zeigen die enge Verschränkung zwischen den unterschiedlichen Disziplinen hier im Haus. Dazu haben wir intensive Kooperationen mit zivilen Universitäten, die ja ebenfalls zu Themen wie „Gewalt“ oder „Gewaltgedächtnisse“ forschen. Es sind zugleich aber auch Themen, die im internationalen Kontext interessant sind.
TD: Ist die Agenda bis 2028 bereits komplett beschlossen? Und: Wer formuliert die Ziele für die Arbeit und damit für die Ausrichtung des ZMSBw?
H: Die Agenda haben wir inhaltlich so weit festgelegt. Wenn es um die Frage von Auftragsforschung geht, sind wir als Historiker und Sozialwissenschaftler im Bereich der Grundlagenforschung frei. „Frei“ heißt, dass wir als eine Dienststelle der Bundeswehr eine Forschungsweisung haben, in welche Richtung wir in den kommenden Jahren nachdenken und arbeiten sollen. Diese Forschungsweisung stammt in erster Linie aus der Feder des Ministeriums (BMVg) – jedoch in Absprache mit uns und in Abstimmung mit unserem wissenschaftlichen Beirat. Unsere Dienststelle wird als Ressortforschungseinrichtung vom Wissenschaftsrat (berät die Bundesregierung und die Regierungen der Länder in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Universitäten, Hochschulen, Wissenschaft und Forschung, Anm.) evaluiert.
TD: Was ist nach heutiger Definition traditionsbegründend, wie soll Tradition gelebt werden?
H: Wenn man diese Frage beantworten will, dann geht es darum, festzustellen, ob es gewisse Handlungen, gewisse Personen gegeben hat, die basierend auf unserer Werteordnung – unserem demokratischen Werteverständnis – Leistungen erbracht haben, an die wir uns positiv erinnern, die wir also herausgestellt betonen. Nehmen wir beispielsweise einen Kasernennamen: die Emmich-Cambrai-Kaserne (in der NS-Zeit Emmich-Kaserne und von 1956 bis 2018 Emmich-Cambrai-Kaserne, nach dem preußischen General der Infanterie Otto Albert Theodor von Emmich und der Schlacht von Cambrai während des Ersten Weltkriegs benannt, Anm.) in Hannover. Sie war lange Jahre Offiziersschule des Heeres. Mit dem Namen verband eigentlich niemand mehr etwas. Er war nicht identitätsstiftend. Oberst Dirk Waldau, damaliger Kommandeur der in der Kaserne stationierten Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, hat den Prozess angestoßen, einen Namen zu finden, mit dem sich die Soldaten identifizieren können – der ihnen etwas sagt. Aus dem Kreis der Soldatinnen und Soldaten wurde der Wunsch geäußert, einen in Afghanistan gefallenen Soldaten zu ehren. Sie wollten an Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein (in Hannover stationierter Feldjäger, der im Mai 2011 im Alter von 31 Jahren durch ein Sprengstoffattentat im Gouverneurspalast der Stadt Taloqan getötet wurde, Anm.), an die Untadeligkeit seines Tuns, seines Auftretens und seine menschliche Art erinnern. Und das ist genau das, was wir mit dem Traditionserlass bewirken wollen, nämlich dass ein Meinungsbildungsprozess von unten einsetzen kann und dass wir beispielsweise mit einem Kasernennamen einen hohen Identifikationsgrad bei den Soldaten schaffen.
Wir wollen eine Wertebindung erzielen, wollen den Soldaten sagen: Schau hin, woran du dich orientieren kannst! Wir wollen den inneren Kompass des Soldaten stärken, ihm für seinen Entscheidungsprozess Möglichkeiten des Handelns aufzeigen und auch positive Beispiele für „gutes Tun“ deutlich machen.
TD: Die Bundeswehr besteht demnächst so lange wie das (kaiserliche) Deutsche Heer (1871 - 1918), die Reichswehr (1921 - 1935) und die Wehrmacht (1935 - 1945) zusammen. Eine Zeitspanne, die mit ihren vielfältigen Einsätzen genug Stoff für eine eigene Tradition bietet.
H: Ja, aber da ist der Traditionserlass auch sehr deutlich. Im Fokus unserer Betrachtung und unseres Traditionsverständnisses heute steht die Geschichte der Bundeswehr. Das ist der Grund, warum wir dieser beim ZMSBw einen ganzen Bereich gewidmet haben – und die Abteilung Einsatz, die sich mit der jüngeren Militärgeschichte beschäftigt, leistet dazu gleichfalls einen Beitrag. Ein Großteil unseres Hauses kümmert sich sowohl militärgeschichtlich wie sozialwissenschaftlich um diese Zeitepoche. Im Traditionserlass steht sehr klar, dass wir Rückbezüge in unsere deutsche Gesamtmilitärgeschichte zulassen müssen und wollen - aber eben mit dem deutlichen Hinweis: Nicht alles, was Geschichte ist, ist auch Tradition. Das heißt: Die Wehrmacht kann als Institution und Organisation nicht traditionsbildend sein, wobei es Menschen in der NS-Zeit und in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gegeben hat, wie beispielsweise die Männer und Frauen des deutschen Widerstandes, an die wir uns als positive Beispiele erinnern und die wir beispielsweise auch mit entsprechenden Namensehrungen bedenken. Es steht ebenfalls im Traditionserlass, dass Letzteres auch für diejenigen gilt, die zwar in der Wehrmacht gedient, sich dann allerdings in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland verdient gemacht haben. Es geht also um jene, die tatsächlich in der Demokratie angekommen sind und die Bundesrepublik Deutschland demokratisch gestaltet haben.
TD: Sie waren unter anderem Lehrer für Militärgeschichte an der Marineschule Mürwik (MSM). Im Zuge der Neugestaltung der dortigen Aula 2016/17 beschloss man, Büsten von Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder (Widerstand 1944), Konteradmiral Rolf Johannesson (Mitbegründer von Bundesmarine und Begründer der Historisch-Taktischen-Tagung der Marine (HiTaTa) und Admiral Dieter Wellershoff (Generalinspekteur, Vereinigung von Bundeswehr und Volksarmee) aufzustellen. In dieser Zeit wurde öffentlich bekannt, dass Johannesson im April 1945 als Admiral Todesurteile gegen der Meuterei auf Helgoland angeklagte Marinesoldaten bestätigt hatte. Seine Einbeziehung in die Umgestaltung führte daraufhin zu teils heftigen Diskussionen. Letztlich entschied man sich aber für die Aufstellung seiner Büste. Ist die Kontroverse um Johannesson ein gelungenes Beispiel für den Umgang mit unserer Geschichte?
H: Der damalige Kommandeur der MSM, Admiral Carsten Stawitzki, vertrat die Auffassung, dass wir etwas für unsere heutigen Soldaten tun müssten, damit sie auch ihren Kompass justieren könnten: In der Aula der Marineschule sei dafür zu wenig von unserer Marine „drin“. Damit hatte er recht. Denn das Einzige, was dort auf die Bundesmarine, die heutige Deutsche Marine, hinwies, war eine Bundesdienstflagge hinten links in der Ecke. Ich hatte dies bereits im Jahr 2000 in meiner Rede anlässlich des 90-jährigen und erneut in meiner Festansprache zum 100-jährigen Bestehen der MSM thematisiert. Wir haben uns zusammengesetzt und ein Konzept entwickelt. Personen sollten in diesem Konzept eine Rolle spielen. Es war für uns völlig unzweifelhaft, dass Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder eine wichtige Rolle in der Marinegeschichte und für die Bewusstseinsbildung der jungen Offiziersanwärter spielt. Ebenso Admiral Dieter Wellershoff, ein Marineoffizier, der Generalinspekteur war – was ja nicht so häufig vorgekommen ist – und dem die schwierige Aufgabe zukam, die Bundeswehr und die Volksarmee zusammenzuführen. Das ist sicher ein ganz großes Verdienst.
Bei der Frage nach den Gründervätern – den ersten Marineoffizieren, an die wir uns positiv erinnern, die also für diese Streitkräfte etwas getan haben – waren zwei Namen im Spiel: zum einen Vizeadmiral a. D. Friedrich Oskar Ruge (Als Mitglied des Naval Historical Teams und Mitautor der Himmeroder Denkschrift gehörte Ruge zu den Gründungsvätern der Bundeswehr und war einer der Gestalter der Bundesmarine, deren erster Inspekteur er 1956 wurde. Von 1962 bis 1965 war er Präsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr, Anm.) und auf der anderen Seite Konteradmiral Rolf Johannesson. Wir haben uns für Johannesson entschieden, aufgrund seiner Leistungen für den Aufbau der Bundesmarine und seine generelle Haltung im Rahmen von Traditionsdebatten in der jungen Bundeswehr. Johannesson hat keine Todesurteile unterzeichnet, er hat sie als Gerichtsherr paraphiert – er hat sie aber auch nicht verhindert. Der Vorwurf zielt aber auch in die Richtung, dass er dieses nach dem Krieg nicht thematisiert hat. Debatten mit denjenigen, die die Aufstellung der Johannesson-Büste ablehnten, haben allerdings entweder nicht stattgefunden, weil die Betreffenden sich nicht der Diskussion stellen wollten, oder sie waren letztlich sinnlos, weil die Kritiker von vornherein die Deutungshoheit für sich beanspruchten. Die Aufstellung der Büste ermöglicht uns, dass wir uns an diesem Namen oder an dieser Person reiben können. Dafür ist die Aula der Marineschule auch der richtige Ort. Sie ist nicht nur ein Versammlungsort, sondern daneben ein Raum, mit dem sich die Kadettinnen und Kadetten auseinandersetzen sollen. Wir werden die Exponate in der Aula, auch die Büsten kontextualisieren und mit verschiedenen Erklärungstafeln vor der Aula arbeiten.
TD: Zum Abschluss: Findet sich das ZMSBw in dem vom Verteidigungsministerium herausgegebenen Traditionserlass wieder?
H: Ja, da finden wir uns inhaltlich und auch erwähnt wieder. Erwähnt deswegen, weil wir mit dem historischen Bildungsangebot, das wir im ZMSBw und darüber hinaus mit dem mir unterstellten Militärhistorischen Museum in Dresden und in Gatow leisten, den Traditionserlass erfüllen. Mit unserer Bildungsarbeit untermauern wir ihn und tragen dazu bei, dass seine Implementierung und das Verständnis weiter gefördert wird. Wir haben hier im Hause eine Ansprechstelle für Militärhistorischen Rat eingerichtet. Sie dient allen Kommandeuren und Dienststellenleitern zur Klärung von Fragen. Unser Referat für das Museums- und Sammlungswesen betreut und unterstützt die militärhistorischen Sammlungen an den unterschiedlichen Dienstorten. Wir bieten außerdem Weiterbildungsveranstaltungen an. Ich fand die Art und Weise ausgezeichnet, wie der neue Traditionserlass ins Leben gerufen wurde – mit unterschiedlichen Workshops an der Führungsakademie, am Zentrum Innere Führung, in unserem Hause und in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Das war ein sehr breit angelegter Prozess. Die (damalige; Anm.) Verteidigungsministerin, Dr. Ursula von der Leyen, hat sich hier von vielen Seiten, intern und extern, beraten lassen. Jetzt kommt es darauf an, dass dieser Erlass implementiert wird. Das ist eine wichtige Aufgabe für die Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche. Interessant ist, dass der Traditionserlass im Verständnis mancher zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur ein Erlass für die Soldaten ist. Er ist jedoch ein Traditionserlass für die Bundeswehr, und da gehört nach meinem Verständnis eben auch der zivile Anteil mit dazu. Von daher ist die neue Kampagne, der neue Slogan „Wir sind eine Bundeswehr“ eine Hilfestellung.