- Veröffentlichungsdatum : 19.09.2019
- – Letztes Update : 10.12.2019
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Der Krieg in Bosnien und Herzegowina 1992-1995
Nach dem Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks Anfang der 1990er-Jahre schien die Ost-West-Konfrontation überwunden zu sein und eine Zeit des nachhaltigen Friedens zu beginnen. Die Jugoslawienkriege, die ab 1991 ausbrachen, passten nicht in diese Vision und konfrontierten die Welt mit der grausamen Realität von Krieg, Tod und Elend. Anfangs noch von Kampfhandlungen verschont, brach 1992 der Krieg in Bosnien und Herzegowina aus.
Eine erbarmungslose Kampfführung, wechselnde Allianzen der Kriegsparteien, der Einsatz nationalistischer paramilitärischer Kräfte, ethnische Säuberungen, Völkermord, Massenflucht, die Belagerung von UN-Schutzzonen und eine internationale Staatengemeinschaft, die in vermeintlicher Schockstarre nicht in der Lage war, das Töten auf dem Balkan zu beenden, waren die Kennzeichen dieses Krieges in Europa, der mit einem ungeliebten Friedensvertrag 1995 zu Ende ging.
Kriegsbeginn 1992
Nach der Gründung der ersten serbischen autonomen Regionen in Bosnien am 27. Juni 1991 verschärften sich die Spannungen zwischen den Volksgruppen bis zur Ausrufung der Serbischen Republik in Bosnien im Jänner 1992. Die Proklamation der Unabhängigkeit der Republik Bosnien und Herzegowina am 5. April 1992 bedeutete eine markante Zäsur im Konflikt um die Macht im zerfallenden Staat Jugoslawien und im neuen Staat Bosnien und Herzegowina.
Diese Entwicklung ließ allerdings nicht auf den, sicherlich bereits seit längerem geplanten, Beginn der militärischen Operationen der bosnisch-serbischen Kräfte am 7. April 1992 schließen, die in den Monaten zuvor erhebliche personelle und materielle Unterstützung durch die Jugoslawische Volksarmee erhalten hatten. Innerhalb weniger Wochen brachten die bosnisch-serbischen Verbände mehr als die Hälfte des Territoriums, der von den Vereinten Nationen anerkannten Republik Bosnien und Herzegowina, unter ihre Kontrolle.
Erst die bessere Organisation und Bewaffnung paramilitärischer Verbände auf bosnisch-muslimischer Seite – mit der offiziellen Gründung einer regulären bosnischen Armee am 20. Mai 1992 – führten ab Jahresbeginn 1993 zu einer schrittweisen Verlangsamung und Eindämmung des serbischen Vormarsches in mehreren Landesteilen Bosniens. Dabei zeigte das nur zögerlich anlaufende internationale Eingreifen in den Konflikt ebenfalls die ersten Auswirkungen.
Situation von 1993 bis 1995
Allerdings brachen im April 1993 heftige Kämpfe zwischen Kroaten und Muslimen in Zentralbosnien aus. Am 24. August 1993 proklamierten die Kroaten die Republik „Herceg-Bosna“. Die Zerstörung der berühmten Brücke von Mostar am 9. November 1993 durch eine bosnisch-kroatische Einheit ist ein Symbol für die Unerbittlichkeit des Bürgerkrieges zwischen den beiden Volksgruppen, die an sich die bosnischen Serben als gemeinsamen Gegner bekämpften. Diese Kampfhandlungen waren in dem Umstand begründet, dass alle Volksgruppen im Bosnienkrieg ihre Eigeninteressen und somit auch ihre jeweiligen Kriegsziele umsetzen wollten, die wie folgt aussahen: Die bosnischen Muslime wollten einen Gesamtstaat innerhalb der Grenzen der ehemaligen jugoslawischen Republik Bosnien und Herzegowina. Die bosnischen Serben, aber auch die bosnischen Kroaten wollten jedoch einen Anschluss ihrer Gebiete an das serbische bzw. kroatische Mutterland.
Die Ziele und Trennlinien der Konfliktparteien waren jedoch nicht immer klar erkennbar. Beispielsweise wurde in einem Teil der Region Bihac, unter Fikret Abdic (ein Muslim), am 27. September 1993 die Autonome Provinz Westbosnien proklamiert. Diese paktierte offen mit der bosnisch-serbischen Seite und stand somit in Opposition zur bosnischen Zentralregierung, wodurch es zu Kämpfen innerhalb der bosnisch-muslimischen Volksgruppe im Raum Biha? kam.
Nachdem durch die Kampfhandlungen in Kroatien ab April 1991 weite Teile der serbischen Siedlungsräume im Gebiet um Knin, in der Lika und der Krajina sowie in Westslawonien (Papuk-Gebirge) unter serbische Kontrolle gebracht worden waren, stand 1992 die Sicherung der Versorgungslinien im Vordergrund der Operationen der Jugoslawischen Volksarmee. Diese Versorgungslinien gingen unter der Bezeichnung „Nordkorridor“ bzw. „Ostkorridor“ in die Kriegsgeschichte ein. Während der Ostkorridor zur Gänze durch bosnisch-serbisches Gebiet verlief, führte der Nordkorridor über längere Strecken durch bosniakisches bzw. kroatisches Siedlungsgebiet. Zwischen Prijedor und Knin querte er alle vier dinarischen Gebirgsketten und war damit leicht sperrbar. Dieser Umstand sowie die Tatsache, dass die einzige Ausweichroute über kroatisches Staatsgebiet verlief, sollte sich mit Fortdauer der Kämpfe als schwerer operativer Nachteil für die bosnisch-serbische Armee erweisen.
Der Beginn der bosnisch-serbischen Operationen am 7. April 1992 brachte zunächst die Aktivierung der beiden Krajina-Korps in Banja Luka und Drvar sowie der operativen Gruppe Knin. Nach dem Aufmarsch aus Serbien wurden Korpskommanden in Bijeljina, Pale, Nevesinje und Bileca stationiert. Das Armeekommando wurde in einer weitläufigen Bunkeranlage bei Han Pijesak eingerichtet. Ziel der Operationen war zunächst der Vorstoß nach Zentralbosnien über das Bosna-Tal, von Banja Luka durch das Vrbas-Tal und von Bosansko Grahovo durch das Livansko polje. Diese Vorstöße konnten von kroatischen Kräften vor Jajce sechs Monate verzögert und schließlich bei Livno, Bugojno und Maglaj zum Stillstand gebracht werden.
Im April 1993 brachen in Zentralbosnien die bereits erwähnten heftigen Kämpfe zwischen bosnischen Kroaten und bosnischen Muslimen aus. In dieser Schwächephase gelang den serbischen Kräften bis zum Juli 1993 die fast vollständige Einkesselung von Sarajewo, die bis zum Kriegsende im September 1995 andauern sollte. Lediglich der Raum nördlich von Bihac konnte von Kräften des V. Bosnischen Korps während der gesamten Kriegsdauer gehalten werden. Der kroatische Einflussbereich schrumpfte auf einen Streifen im dalmatinischen Hinterland zwischen der Neretva und dem Raum Livno.
Lage im Frühjahr 1995
Nach fast vier Jahren oft nur phasenweise unterbrochener Kampfhandlungen zeigte sich, dass das Territorium von Serbien und Montenegro bis dato von den Kriegshandlungen so gut wie keine direkten materiellen Schäden aufwies. Zu dieser Zeit hatte die Ausdehnung des serbischen Machtgebietes im bosnischen Raum beinahe das Maximum erreicht. Aufgrund der bisherigen internationalen Reaktionen war zu diesem Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit groß, dass die bosnisch-serbische Führung ihre bereits erreichten territorialen Eroberungen behalten könnten.
Operation „Blitz“
Am 1. Mai griffen fünf kroatische Brigaden, zwei Heimatschutzregimenter, ein Militärpolizeibataillon und Einheiten der Spezialpolizei in der Stärke von rund 7.200 Mann (allerdings mit moderner Bewaffnung und guter Logistik) in Westslawonien (Kroatien) an und zerschlugen die „Serbische Slawonische Republik“ unter „Präsident“ Mirko Mrtic sowie ihre Streitkräfte (knapp 8.000 Mann). Während es im Raum Pakrac und Požega zu nennenswerten Kämpfen kam, flüchteten rund 15.000 Serben über die Save in den serbisch kontrollierten Teil Bosniens.
Operation „Sturm“
Nachdem die Operation „Blitz“ im Mai 1995 zur Vertreibung der Serben aus dem kroatischen Westslawonien geführt hatte, fiel nun die Entscheidung des Krieges in Westbosnien. Zur Vorbereitung der Operation „Sturm“ (als Beispiel für eine Operation nach „Westdoktrin“) wurden bereits am 30. Juli mehrere Stöße in die Tiefe des Gegners auf Bosansko Grahovo geführt. Der Auftakt war der Einmarsch von zwei kroatischen Garde-Brigaden (4. und 7.) in die kroatische Krajina am 25. Juli, die mit Unterstützung des 126. Territorialregimentes über die kroatisch-bosnische Grenze weitergeführt wurde. Am 30. Juli konnten die kroatischen Kräfte den strategisch bedeutsamen Ort Bosansko Grahovo einnehmen. Für die Operation „Sturm“ gegen Westbosnien wurden Anfang August 1995 starke Kräfte bereitgestellt (fünf Gardebrigaden, 14 Brigaden und 21 Territorialregimenter sowie Einheiten der Spezialpolizei, insgesamt 130.000 Mann). Im Raum Gospic standen zwei Brigaden, weitere im Raum Karlovac und im Raum Sisak (2. Gardebrigade mit 57. Brigade und ein Territorialregiment) sowie im Raum Livno. Diese starken kroatischen Verbände stießen am Morgen des 4. August 1995 rasch gegen die drei serbischen „Korps“ mit 18 Brigaden, die allerdings nur noch 30.000 Mann umfassten, in die Krajina Westbosniens vor und konnten die durch Nachschubprobleme stark geschwächten serbischen Korps isolieren und in Teilen schlagen.
Zwischen Karlovac und Sisak wurden sechs kroatische Landwehrregimenter zur Abriegelung eingesetzt, um ein Ausweichen bosnisch-serbischer Kräfte nach Kroatien zu verhindern. Knin, das politische Zentrum der Krajina-Serben, fiel bereits am 5. August. Am selben Tag wurde auch die Luftwaffenbasis Udbina von kroatischen Polizeiverbänden nahezu kampflos besetzt. Heftigeren Widerstand leisteten nur die 24. serbische Brigade bei Petrinja und Teile der serbischen 13. Brigade bei Slunj. Am 8. August 1995 war die Operation „Sturm“ großteils abgeschlossen. Kroatien hatte rund 7.000 km2 seines 1991 beanspruchten Territoriums zurückgewonnen. Die Niederlage der Verbände der Republik Serbische Krajina in diesen beiden Operationen hatte strategisch-operative Auswirkungen, die auch Bosnien betrafen. Sie war nicht zuletzt auf die ausbleibende Unterstützung Jugoslawiens unter Präsident Slobodan Miloševic zurückzuführen. Rund 175.000 bis 200.000 Serben flüchteten aus der Krajina. Bereits am 6. August war es zum Zusammentreffen kroatischer Verbände mit dem V. Bosnischen Korps im Raum Bihac gekommen, das Mitte September auf Sanski Most und Bosanski Petrovac vorrückte. Weitere kleinere kroatisch-bosnische Vorstöße sowie massive Luftangriffe von NATO-Verbänden führten am 12. Oktober schließlich zum Waffenstillstand. Eine wesentliche Folge der Operation war die Flucht bzw. Vertreibung von etwa 200.000 Serben aus der Lika in den serbisch-kontrollierten Teil Nordbosnien.
Die letzten zum Teil erfolgreichen Versuche bosnisch-serbischer Verbände im Spätfrühjahr und Sommer 1995, die operative Initiative zurückzugewinnen, bildeten einzelne erfolgreiche Angriffe gegen die von den Truppen der Vereinten Nationen garantierten Schutzzonen (Goražde, Tuzla, Srebrenica, Žepa). Das von bosnisch-serbischen Truppen nach der Eroberung, des von einem niederländischen UN-Bataillon gesicherten Srebrenica am 13. Juli 1995 verübte Massaker an bosnisch-moslemischen Gefangenen (über 8.000 Ermordete; bis heute konnten 6.378 in Massengräbern aufgefundene Leichen namentlich zugeordnet werden) und die wenig beachtete Eroberung von Žepa am 25. Juli führten letztlich im August zum massiven Eingreifen der NATO mit Luftstreitkräften in ganz Bosnien und einzelnen Heeresverbänden im Raum Sarajewo.
Das Eingreifen der NATO-Luftstreitkräfte
Von 12. April 1993 bis Anfang März 1995 waren infolge der Operation „Deny Flight“ von NATO-Luftstreitkräften bereits mehr als 52.000 Einsätze geflogen worden. Die Luftoperationen der NATO-Luftstreitkräfte zum Schutz von UNPROFOR seit dem Frühjahr 1993 sowie die Überwachung des Flugverbotes für die Kriegsparteien über Bosnien („Deny Flight“) können als teilweise erfolgreich bezeichnet werden.
Zwar konnten der serbische Artilleriebeschuss von Sarajewo und die Angriffe auf die Schutzzonen nicht verhindert werden, bosnisch-serbische oder jugoslawische Luftoperationen über Bosnien fanden aber so gut wie nicht statt. Einzelne Versuche dazu führten zu Verlusten, als am 28. Februar 1994 zwei amerikanische F-16 vier serbische Kampfflugzeuge abschossen. Vereinzelt gingen 1994 auch Kampfflugzeuge der NATO durch die bosnisch-serbische Luftabwehr verloren. Relativ erfolgreich war auch die Luftbrücke nach Sarajewo seit Sommer 1992, mit der die Zivilbevölkerung Sarajewos zumindest vor dem Verhungern verschont blieb, auch wenn diese fallweise von bosnisch-serbischen Kräften beschossen wurde. Schließlich führte die Operation „Deliberate Force“ ab 30. August 1995 durch Luftangriffe und Beschuss mit „Cruise Missiles“ zur Ausschaltung der bosnisch-serbischen C3-Struktur (Command, Control, Communications-Struktur), von Munitionsdepots, Brücken und einzelnen Radar-, Luftabwehr- und Artilleriestellungen. Sie brachte folglich die militärische Entscheidung im Krieg um Bosnien.
Über die US-Vermittlung und wohl auch aufgrund eines massiven wirtschaftlichen und militärischen Druckes kam es am 24. November 1995 zur Paraphierung des Abkommens von Dayton/Ohio. Der feierliche Friedensschluss in Paris fand am 14. Dezember 1995 statt. Die Grenzlinie zwischen den Entitäten folgt im Wesentlichen der Waffenstillstandslinie. Als wichtige Ausnahmen sind das Gebiet um Mrkonjicgrad, das der Republika Srpska zugeordnet wurde, sowie der Zugang nach Goražde zu nennen. Über den Status von Brcko an der Save wurde lange gerungen, bis im Mai 1999 die Zuordnung zur Zentralregierung in Sarajewo erfolgte.
Die Ablöse der IFOR (Implementation Force) durch die SFOR (Stabilisation Force) ab 20. Dezember 1996 und die Halbierung der ehemaligen IFOR-Stärke von 60.000 auf 31.000 Mann und letztlich auf etwa 12.000 Mann wurde bis zum Auslaufen des Mandates der NATO-Aktion am 20. Juni 1998 (unter Beteiligung zahlreicher Staaten, die das Partnership for Peace-Abkommen unterzeichnet hatten) fortgesetzt. Die SFOR-Operation sollte nach dem Beschluss des NATO-Gipfeltreffens in Istanbul im Juni 2004 mit Jahresende 2004 beendet und am 2. Dezember 2004 durch die am 12. Juli 2004 vom Rat der EU beschlossene Operation EUFOR/Althea abgelöst werden. Die ursprüngliche Zahl von 6.300 Soldaten wurde 2007 auf 2.700 reduziert. Seit 4. Dezember 2009 wird EUFOR von bisher sieben ranghohen österreichischen Offizieren befehligt.
Bilanz des Krieges
Schon im Vorfeld der bewaffneten Auseinandersetzungen waren Schlagworte aus vergangenen Jahrhunderten und speziell der Zeit der Jahre 1941 bis 1945 verwendet worden, die mit Kreuzzugsideologien („Kampf gegen den Faschismus“, „Kampf gegen das Fußfassen des islamischen Fundamentalismus“ in Südosteuropa etc.) einen Territorialgewinn für ein zu schaffendes Großserbien, aber auch ein Kroatien für „alle“ Kroaten ideologisch zu untermauern versuchten. Die Bezeichnung des jeweiligen Gegners während des Krieges in Kroatien und Bosnien und Herzegowina als „Ustaši“, „Etniki“ oder „Türken“ weist auf die erwähnten historischen Epoche hin und reicht zum Teil noch wesentlich weiter zurück.
Der Krieg hatte vor allem durch die elektronischen Medien einen hohen Grad an öffentlichem Interesse in Europa, aber auch in den USA, Kanada und in anderen Teilen der Welt hervorgerufen. Von Beginn an war der Bosnienkrieg auch ein „Krieg der Journalisten und Berichterstatter“, die unter extremer persönlicher Gefährdung, aber auch unter hohem Erfolgsdruck für die Lieferung von Fotos und Berichten an vorderster Front standen.
Während die Verluste an Soldaten bei den Kämpfen in Slowenien gering geblieben waren und nur wenige Zivilisten starben, kann dem Krieg in Kroatien (rund 35.000 Tote) und speziell jenem in Bosnien (mehr als 100.000 Tote) phasenweise der Charakter eines Vernichtungskrieges nicht abgesprochen werden. Zahllose Morde an Zivilisten und gefangenen Kombattanten wurden an manchen Orten oft erst nach dem Ende der Kampfhandlungen verübt. Die Verluste an Menschenleben in den Jugoslawienkriegen sind schwer zu quantifizieren, werden jedoch mit mindestens 136.000 Toten zwischen 26. Juni 1991 und Ende November 1995 zu beziffern sein. Andere Schätzungen, die die Verluste im Kosovo-Krieg mit einbeziehen, sprechen unter Einrechnung der bis heute vermissten Personen von über 150.000 Toten.
Menschenrechtsorganisationen wie die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ haben sich um die Dokumentation der Schicksale von Einzelpersonen verdient gemacht, während sich das Büro des UNHCR sowie das Internationale Komitee des Roten Kreuzes in weiterer Folge für die Flüchtlingsbetreuung und die Klärung des Schicksals von Kriegsopfern einsetzten. Zu Jahresbeginn 1997 war (nach Statistiken der UNO) der Verbleib von etwa 25.000 Personen (davon 20.000 allein aus Bosnien und Herzegowina) ungeklärt. Das Rote Kreuz verfügte zu diesem Zeitpunkt noch über 16.000 Personensuchmeldungen von Vermissten. Zwar konnten zahlreiche Personen lebend wiedergefunden werden, es werden aber bis heute noch immer Massengräber entdeckt, die die Gesamtzahl der Toten weiter erhöhen.
Die Anzahl der oft systematisch verübten Vergewaltigungen von Frauen (besonders häufig in Bosnien) soll sich auf mehrere tausend bis maximal 70 000 Fälle belaufen. Der Begriff „Ethnische Säuberung“ für die Massenvertreibungen trat als Unwort des Jahres 1992 in den Sprachgebrauch Europas ein. Die Einrichtung von brutal geführten Gefangenenlagern, regelrechten Konzentrationslagern, wurde im Sommer 1992 weltweit bekannt. Die Anzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen aufgrund der Kämpfe zwischen Sommer 1991 und Ende 1995 betrug im August 1994 im gesamten ehemaligen Jugoslawien allein fast 3,8 Millionen. Etwa eine Million Menschen waren damals in verschiedene europäische Staaten geflüchtet. Die Ahndung einzelner Kriegsverbrechen durch das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zeigt dabei nur die Spitze des Eisberges zahlloser, nahezu unvorstellbarer Vorfälle.
Der Haiducken-Mythos (Kämpfer = Helden) lebte in den neunziger Jahren wieder auf. Bisherige Größen der serbischen Unterwelt, wie Željko Ražnjatovic („Arkan“) oder andere zwielichtige Nationalisten wie Vojislav Šešelj mit durchaus fließenden Übergängen zwischen beiden Kategorien wurden militärische Kommandanten, deren „Freikorps“ („Tiger“, „Weiße Adler“) besonders viele Gräueltaten verübten, wobei auch bei den anderen Kriegsparteien ähnliche Phänomene zu beobachten waren. Ein Beispiel dafür ist die Wandlung von bekannten bosnischen Kriminellen aus Sarajewo zu lokalen „Warlords“ oder der Einsatz einzelner kroatischer Spezialverbände, die fallweise von zwielichtigen Gestalten geführt wurden. Ein weiteres Phänomen, das Westeuropa in der Fortdauer des Krieges betraf, war das Anwachsen der Organisierten Kriminalität von Gruppen aus Ex-Jugoslawien, die ihre Aktivitäten intensivierten, um die akut notwendige Kapitalbeschaffung für die verschiedenen Kriegsparteien sicherzustellen. Daher erscheint es nicht unangebracht, Westeuropa in gewisser Weise als rückwärtiges Frontgebiet des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zu betrachten.
Während diverse Söldnergruppierungen aus Osteuropa (schwergewichtsmäßig aus Russland, Rumänien und Bulgarien) auf serbischer Seite dienten, kämpften Söldner aus West- und Mitteleuropa meist auf kroatischer Seite sowie anfangs in geringerem und später stärkerem Ausmaß auch muslimische „Mudjaheddin“ („Gotteskrieger“) aus dem Nahen und Mittleren Osten. Diese kämpften speziell auf bosnischer Seite und führten zu einem starken Anwachsen des islamischen Fundamentalismus in einzelnen Landesteilen Bosniens und Herzegowinas – nicht zuletzt die enorme finanzielle Unterstützung durch Saudi-Arabien.
Auswirkungen bis heute
Der brutale Krieg in Bosnien und Herzegowina, aber auch die Auswirkungen des Friedensvertrages von Dayton, der de facto die Verfassung definiert und einzementiert, sind eine schwere Bürde für das Zusammenwachsen und Funktionieren des Staates und seiner Institutionen. Das zeigen einerseits die triste wirtschaftliche Situation, der gegenwärtige Exodus der jungen Generation, fehlende politische Reformen, sich gegenseitig blockierende politische Kräfte oder die allgegenwärtige Korruption. Andererseits leben die verschiedenen Volksgruppen zwar nebeneinander jedoch kaum miteinander innerhalb einer labilen Sicherheitssituation, die als „Fortsetzung des Krieges ohne unmittelbare Kampfhandlungen“ begriffen werden kann und in der es zurzeit nur wenig „Licht am Ende des Tunnels“ zu geben scheint.
Hofrat i.R. Prof. Dr. Wolfgang Etschmann ist Historiker und Forscher und vormals Bediensteter der Landesverteidigungsakademie.