Abnützungskrieg in der Ukraine
Sowohl die russische als auch die ukrainische Seite setzen im Krieg in der Ukraine ihre Materialschlacht weiter fort. Der hohe Munitionsverbrauch und der Bedarf an Drohnen stellt die Logistik beider Seiten vor hohe Herausforderungen.
Sommeroffensive
Die vergangenen Monate des Ukraine-Krieges waren von der russischen Sommeroffensive, der siebten Phase des Krieges, geprägt. In dieser Phase ab Anfang Mai 2024 gab es entlang der gesamten Front im Osten ein Hin und Her von beiden Seiten und zuerst nur geringe, später größere Geländegewinne für die russischen Streitkräfte. Für eine Betrachtung der russischen Ziele dieser Offensive ist es daher günstig, diese zunächst auf der strategischen, operativen und taktischen Ebene zu erörtern.
Strategische Ebene
Auf der strategischen Ebene ist es nach wie vor das Ziel der russischen Seite, durch den Einsatz von weitreichenden Luftwaffenverbänden, von Drohnen und Marschflugkörpern die Kritische Infrastruktur der Ukraine zu treffen. Das geschah beispielsweise im August und im September mit intensiven Luftschlägen und dauerte auch im Oktober an. Der ukrainische Generalstab vermeldet, dass von Februar bis Mitte des Jahres knapp 10 000 Raketen und Marschflugkörper aus Russland auf die Ukraine abgefeuert worden wären. Davon wurden bisher nur knapp ein Viertel abgeschossen. Hinzu kamen über 14 000 iranische bzw. russische Drohnen. Hier wurden über 2/3 abgefangen. Alleine im September gab es jede Nacht zumindest einen russischen Luftangriff auf die Ukraine. Das Ergebnis ist, dass mittlerweile etwa 80 Prozent der dortigen Kritischen Infrastruktur zerstört oder schwer beschädigt sind. Die Ukraine versucht sich zu wehren und mit weitreichenden Marschflugkörpern, die sie selbst produziert, aber auch mit Drohnen, Ziele in Russland zu bekämpfen. Das wohl spektakulärste Beispiel dazu ist der Angriff auf das russische Munitionsdepot von Toropez, wo vermutlich mehr als 30 000 Tonnen Munition, darunter insgesamt 750 000 Artilleriegranaten, zerstört wurden. Diese Angriffe sind spektakulär, haben aber noch immer keinen saturierenden Effekt. Das heißt, die ukrainische Seite müsste viel mehr von diesen Attacken durchführen, um messbare Ergebnisse an der Front erzielen zu können.
Operative Ebene
Auf operativer Ebene ist es nach wie vor das Ziel der russischen Seite, durch den Einsatz von insgesamt neun operativen Manövergruppen entlang der gesamten Front die ukrainischen Streitkräfte zu zwingen, ihre kostbaren Reserven einzusetzen bzw. die Front zu durchbrechen. Der Beginn der Sommeroffensive war gekennzeichnet durch einen russischen Bindungsangriff im Raum Charkiw. Dort war es nicht das primäre Ziel, die Stadt Charkiw in Besitz zu nehmen, vielmehr wollte man die ukrainische Seite dazu zwingen, Kräfte aus dem Donbass in den Raum Charkiw zu verlegen, um dieser Offensive etwas entgegenzuhalten. Dieses Ausdünnen der Front war die Voraussetzung für den massiven russischen Angriff im Osten (Donbass) in den vergangenen Wochen und Monaten.
Taktische Ebene
Wo immer es möglich ist, versucht die russische Seite auf der taktischen Ebene mit kleinen Elementen anzugreifen. Entweder durch Soldaten zu Fuß oder durch Soldaten zum Beispiel auf Motorrädern. Auch wenn das so interpretiert werden könnte, ist das nicht nur ein Zeichen eines Mangels der russischen Streitkräfte an Personal oder Gerät, sondern vor allem auch das Verwenden einer „neuen“ Taktik, die eigentlich aus dem Zweiten Weltkrieg stammt. Damals gab es Motorradaufklärungsregimenter und -bataillone, die um eine Panzerkompanie gebildet wurden und über 250 (im Regiment) bzw. 100 (im Bataillon) Beiwagenmaschinen bzw. Motorräder verfügten. Mit denen versuchte man die deutschen Verteidigungsstellungen auf breiter Front zu durchstoßen. Genau das versucht die russische Seite auch heute mit diesen kleinen motorisierten Gruppen in der Ukraine. Erkannte Lücken werden dann durch mechanisierte Kampfgruppen attackiert.
Abgesehen von dieser Taktikänderung auf der gefechtstechnischen Ebene ist die russische Seite in einem anderen Fähigkeitsbereich, der auf den ersten Blick nicht immer auffällt, sehr erfolgreich – dem Kampf im elektromagnetischen Feld. Dabei gelingt es der russischen Seite immer besser, wesentliche westliche Waffensysteme zu stören und deren effektiven Einsatz zu verhindern. Ein gutes Beispiel dazu ist die endphasengesteuerte Artillerie-Munition vom Typ Excalibur, deren Wirkungsgrad sich von 95 auf sechs Prozent reduziert hat. Diese Herausforderung betrifft auch die westlichen Systeme vom Typ HIMARS (Raketenwerfer), JDAM-ER (Präzisionsbombe) sowie Storm Shadow und SCALP (Marschflugkörper). Den russischen Erfolgen im elektromagnetischen Feld versucht die Ukraine mit eigenen Entwicklungen entgegenzuhalten. Dabei sticht vor allem der Einsatz von Drohnen unterschiedlicher Art und Weise ins Auge. Einerseits sind das Angriffsdrohnen, sogenannte First-Person-Drohnen, andererseits Drohnen, die gezielt zur Überwindung des elektromagnetischen Feldes eingesetzt werden. Ein Beispiel, wie beide Seiten versuchen, das elektromagnetische Feld zu überwinden, ist der Einsatz von kabel- bzw. lenkdrahtgesteuerten Drohnen. Dabei werden Kabel bzw. Lenkdrähte wie bei Panzerabwehrlenkwaffen verwendet, mit denen es tatsächlich gelingt, den elektromagnetischen Schutz zu durchbrechen.
Situation an der Front
Nach der kurzen Betrachtung der strategischen, operativen und taktischen Ebene gilt es, die Situation an der Front an den ausgewählten Beispielen Charkiw, Kupjansk, Tschassiw Jar und Pokrowsk zu betrachten.
Charkiw
Bei Charkiw war es die Absicht der russischen Kräfte, mit der Gruppierung Sever (Nord) in Richtung der Stadt anzugreifen, um so signifikante ukrainische Kräfte zu binden. Das ist zum Teil gelungen, jedoch verfügte die ukrainische Seite weiterhin über genug Kräfte im Donbass. Der Preis für dieses Vorgehen war ein hoher. So wurde beispielsweise die Stadt Woltschansk, nordostwärts von Charkiw, von russischer Seite durch den Einsatz von Artillerie, Raketenwerfern und Gleitbomben völlig dem Erdboden gleichgemacht.
Kupjansk
Ein weiterer Hotspot der vergangenen Wochen und Monate war bei Kupjansk im Norden der Donbass-Front. Dort ist es den russischen Verbänden bei Pischane gelungen, die Verteidigungsstellungen zu durchbrechen und weiter Richtung dem Fluss Oskil anzugreifen. Die russische Seite hat mittlerweile den Fluss gewonnen und somit eine Zweiteilung der ukrainischen Kräfte in diesem Raum erzielt.
Tschassiw Jar
Etwas südlich davon liegt ein weiterer Hotspot bei Tschassiw Jar. Dort versuchen die russischen Streitkräfte, über den Siwerskyj-Donez-Donbass-Kanal anzugreifen und Brückenköpfe zu bilden, um dieses Gelände in Besitz zu nehmen und von dort aus den Raum Richtung Westen zu beherrschen. Auch hier gelang das Übersetzen des Kanales und es toben heftige Kämpfe um die Höhen von Tschassiw Jar.
Pokrowsk
Zugespitzt hat sich die Situation vor allem im Raum Pokrowsk, im zentralen Bereich der Donbassfront. Pokrowsk ist ein wichtiger Logistik-Knotenpunkt, aber auch als Bergbaustadt für die Ukraine von Bedeutung. Dort ist es den russischen Truppen bei Otscharetyne gelungen, die erste Verteidigungslinie zu durchbrechen und bis zur zweiten Verteidigungslinie vorzustoßen. Hier stehen die Russen vor einem möglichen Durchbruch, und es stellt sich die Frage, ob die ukrainische Seite genügend Kräfte verfügbar machen kann, um eine dritte Verteidigungslinie zu etablieren. Diese könnte angelehnt links und rechts bzw. unmittelbar ostwärts der Stadt Pokrowsk errichtet werden, um eine mögliche Inbesitznahme durch die Russen zu verhindern, falls die zweite Linie nicht halten sollte. Diesen Angriff auf Pokrowsk erfolgreich zu beenden versucht die russische Seite auch deshalb so vehement, da die nächste Schlammperiode im Herbst alle Bewegungen de facto unmöglich macht.
Angriff auf Kursk
Nachdem der Druck der russischen Verbände bei Pokrowsk zu hoch geworden ist, hat sich die ukrainische Seite dazu entschlossen, bei Kursk russisches Territorium anzugreifen. Das Ziel des Angriffes war und ist das gleiche wie jenes der Russen bei Charkiw. Die jeweils andere Seite soll durch eigene Angriffe dazu gezwungen werden, Kräfte, vor allem aus dem Raum Donbass, abzuziehen. Der Angriff bei Kursk fand am Beginn des Augustes statt. In den ersten Tagen gelang den ukrainischen Streitkräften ein signifikanter Raumgewinn von nahezu 1 100 km², bis die russischen Streitkräfte die ukrainischen Verbände abriegeln und zum Teil isolieren konnten. Mittlerweile sind die ukrainischen Truppen an diesem Frontvorsprung stark unter Druck, da die russische Seite versucht, diese von Norden und Osten kommend, einzuschließen.
Ein Dilemma, das die ukrainischen Streitkräfte dort haben ist, dass die russischen Kräfte auch dort mittlerweile ihr Reconnaissance-Fire-Complex-System zur Aufklärung und Kampfführung sehr effektiv einsetzen. Durch Drohnen können sie de facto die gesamten ukrainischen Kräfte bereits erkennen, bevor diese tatsächlich zum Einsatz kommen. Ein gutes Beispiel dazu war der Gegenangriff der 21. Mech-Brigade, ausgestattet unter anderem mit Kampfpanzer vom Typ „Leopard“ 2 oder dem schwedischen Kampfschützenpanzer „Stridsfordon“ CV 90. Dieser ukrainische Angriff blieb wegen dieses Vorteils in der Führungs- und Kampfführung im Feuer der russischen Artillerie und der russischen Abwehr liegen.
Abnützungskrieg
Ein Beispiel für den dominierenden Charakter des Abnützungskrieges in der Ukraine, welches in den Medien viel Aufmerksamkeit erhielt, ist die Situation der Bergbaustadt Wuhledar. Dort konnten die ukrainischen Kräfte noch vor einem Jahr entscheidende Abwehrerfolge erzielen. Die russische Seite hat im Jänner bzw. Februar 2024 versucht, durch zwei massiv vorgetragene Angriffe mit mehreren Brigaden, die Stadt in Besitz zu nehmen. Diese Absicht wurde jedoch durch die massive ukrainische Abwehr über viele Monate hindurch zunichtegemacht. Eineinhalb Jahre später fiel die Stadt dennoch.
Nach mehr als eineinhalb Jahren Beschuss durch Artillerie, Raketenwerfer und vor allem durch den Einsatz von Gleitbomben von 500 bis 1 500 kg war dieser Stützpunkt so schwer getroffen und die Verluste so groß, dass er nicht länger gehalten werden konnte. Die ukrainischen Streitkräfte mussten sich absetzen. Ähnliche Situationen wiederholen sich entlang der gesamten Front. Die nächsten Kessel kündigen sich aktuell (Stand Oktober 2024) südostwärts von Pokrowsk an. Dort versuchen russische Verbände, die ukrainischen Kräfte bei Selydowe und Kurachiwka in einer Zangenbewegung von Norden und Süden kommend einzukesseln.
Exkurs: Revolution auf dem Schlachtfeld
Kriegsbeteiligte Staaten sind in der Lage eine Revolution hinsichtlich der Entwicklung und des Einsatzes ihrer Waffensysteme durchzuführen. So kann die Ukraine, ausgehend von der Aufklärungsdrohne, mittlerweile eine große Bandbreite unterschiedlicher Drohnensystemen, z. T. bereits kombiniert mit künstlicher Intelligenz, einsetzen. Das ist eine zunehmend erkennbare Revolution in der Kampfführung und somit auf dem Schlachtfeld. Auf der anderen Seite stagnieren die westlichen Streitkräfte in ihrer Entwicklung, wo es aktuelle keine wesentlichen Neuentwicklungen, bzw. zumindest eine Evolution gibt. Wenn es nicht gelingt die gegenwärtigen militärischen Entwicklungen zu verstehen und zu versuchen, die damit verbundenen Erkenntnisse und Ergebnisse in den westlichen Streitkräften zu implementieren, wird es für diese zunehmend schwieriger auf den Schlachtfeldern der Zukunft zu bestehen.
Geopolitische Dimension
Während sich die Situation an der gesamten Front zuspitzt, stellt sich die Frage, ob der Westen bereit ist, die Ukraine weiter zu unterstützen. Wie fragil die Situation ist, zeigt die Diskussion um die Lieferung weiterer Waffensysteme. Häufig decken sich die angekündigten Maßnahmen nicht mit den tatsächlich umgesetzten. So hat Europa etwa versucht, Waffensysteme bereitzustellen und Absprachen mit den USA getätigt, die jedoch aus verschiedenen Gründen auf der Bremse stehen. Während der Westen diskutiert, versucht Russland im Informationsraum dagegenzuhalten. Dabei stellt der russische Präsident klar, dass der Einsatz einiger weitreichender Waffensysteme aus seiner Sicht ohne Unterstützung des Westens nicht möglich wäre. Damit würde sich für ihn die Frage der Kriegsbeteiligung anderer Staaten stellen. Konkret meint er damit das technische System Terrain Contour Matching (TERCOM), mit dem Marschflugkörper die Flugrouten dem Terrain angepasst selbstständig wählen können.
Dieses unterstützende System, dessen Verwendung ein hohes technisches Wissen und Können voraussetzt, wird vor allem von den USA betrieben. Fakt ist, dass die Unterstützung der Ukraine durch den Westen immer mehr nachlässt, es Grenzen bei dieser gibt, und dass die Verbündeten der Ukraine realistische Ziele sehen möchten. Das zeigt sich auch bei der Reise des ukrainischen Präsidenten Selenskyj in die USA und Europa im Oktober 2024, wo er seinen Victory Plan vorstellte und für seine Bedürfnisse warb. Das Center of Gravity, also der zentrale „Schwerpunkt“, der es der Ukraine ermöglichen sollte, diesen Krieg zu gewinnen, ist die Unterstützung mit westlichen Waffensystemen. Wenn diese nachlässt, muss die Ukraine ihre Ziele kürzer stecken, das bedeutet, auf Gelände zu verzichten, das Russland bereits in Besitz genommen hat.
Wie die Sommeroffensive gezeigt hat, ist Russland nach wie vor in der Lage, die Kohäsion seiner Bevölkerung und somit die Unterstützung von Präsident Putin aufrecht zu halten. So scheint der Wille zum Sieg, trotz massiver Verluste, weiterhin vorhanden zu sein und es werden nach wie vor ausreichend Kräfte an die Front geschickt. Zusätzlich können jene Ressourcen und Rohstoffe verfügbar gemacht werden, die den Erfolg an der Front ermöglichen. Damit ist klar, dass dieser Krieg noch Jahre dauern kann. Die Ukraine ist neuerlich gezwungen, hunderttausende Soldaten zu mobilisieren. Erschwerend für die Ukraine ist, dass sich mittlerweile die globale Situation verändert hat.
Die Ukraine hat als Konfliktraum nicht mehr die gleiche Relevanz wie vor zwei Jahren. So gibt es zum Beispiel die multiple krisenhafte Situation im Nahen Osten nach den Angriffen der Hamas, der Hisbollah, der Huthis und des Iran auf Israel ab Oktober 2023. Dadurch sind die USA zunehmend gefordert, ihre Ressourcen auf der gesamten Welt zu verteilen und deshalb enorm unter Druck geraten. Inzwischen geht das Sterben in der Ukraine weiter. Neue, in den USA kolportierte Zahlen sprechen von bis zu 200 000 toten und 400 000 verwundeten russischen Soldaten und 80 000 toten und 400 000 verwundeten ukrainischen Soldaten. Hinzu kommen zehntausende tote und verletzte Zivilisten. In Anbetracht dieser nüchternen Lagedarstellung kann man davon ausgehen, dass der kommende Winter für die ukrainische Bevölkerung besonders hart werden wird.
Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD; Leiter Institut 1 an der Theresianischen Militärakademie
Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 4/2024 (400).