- Veröffentlichungsdatum : 20.06.2023
- – Letztes Update : 19.06.2023
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AFDRU-Einsatz in der Türkei
Am 6. Februar 2023 bebte die Erde in der Türkei und verursachte schwere Schäden. Der Aufstellungsstab der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) des Österreichischen Bundesheeres wurde alarmiert. Die Einheit verlegte umgehend in den Einsatzraum und begann mit der Rettung von Menschenleben.
Als am Montag, 6. Februar 2023, das Telefon klingelte und der Leiter der Stabsabteilung des ABC-Abwehrzentrums (ABCAbwZ) in kurzen Worten das Erdbeben in der Türkei beschrieb, war klar, was zu tun ist. Der Aufstellungsstab der Austrian Forces Disaster Relief Unit wurde alarmiert. Sofort wurden Ansprechpartner in der Türkei, der Europäischen Union, bei den Vereinten Nationen sowie bei befreundeten Rettungsteams angerufen, um das Lagebild zu verdichten. Die Erstbeurteilung war bereits um 0700 Uhr abgeschlossen. Beinahe zeitgleich kam das internationale Hilfsansuchen der Türkei in Österreich an, und die Zeit bis zur Entsendung begann zu laufen.
Alarmierung und Vorbereitungen
Nach der Alarmierung des AFDRU-Teams im ABCAbwZ wurde ein schweres Rette- und Bergeteam formiert. Gerät, Verpflegung, Fahrzeuge und weitere Güter wurden verpackt, verzollt und flugtauglich gemacht. Gerät und Personal, das nicht im ABCAbwZ verfügbar war, musste rasch in Marsch gesetzt werden, um mit dem Kontingent innerhalb der geforderten zwölf Stunden losfliegen zu können. Insgesamt ging das Kontingent mit 40 Tonnen Material in den Einsatz.
Bei einem Alarm zählt jede Minute. Die Handgriffe müssen sitzen, und jeder Beteiligte steht unter enormem Zeitdruck. Für solche Einsätze trainiert das ABCAbwZ jedes Jahr. Die Tätigkeiten im Aufstellungsstab sind routiniert und automatisiert. Nur so war es möglich, ein Team mit 82 Personen sowie Gerät und Material innerhalb eines Tages in einen über 2.000 Kilometer entfernten Einsatzraum zu bringen. Ein Rette- und Bergeelement besteht aus Personen mit unterschiedlichen Spezialausbildungen. Das Ziel ist, möglichst viel Know-how im Team zu haben. Das Kontingent bestand aus Berufssoldaten, Milizsoldaten, Bergrettern und Feuerwehrleuten, die zugleich Rettungshundeführer sind.
Parallel dazu kümmerten sich verschiedene Dienststellen um die Logistik und weitere Belange, die bei einem internationalen Katastrophenhilfeeinsatz anfallen. Innerhalb weniger Stunden mussten zwei Cargo-Flugzeuge gechartert werden, die zusätzlich 25 Tonnen an Gerät und drei Fahrzeuge transportieren konnten. AFDRU hat den Anspruch, in allen Bereichen autark zu sein. Dies betrifft nicht nur die Einsatzführung, sondern auch die Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung und Zusammenarbeit mit Behörden, anderen Teams und den Betroffenen vor Ort.
Nach der Einsatzfreigabe flog ein Vorkommando von Linz-Hörsching in die Türkei. Dieses hatte ausreichend Ausrüstung, um bis zu vier Tage lang autark zu sein, und den Auftrag, einen adäquaten Einsatzraum zu erkunden. Eine Herausforderung war die Größe des betroffenen Gebietes. Um dennoch strukturiert in den Einsatz zu gehen, gibt es die International Search and Rescue Advisory Group (INSARAG). INSARAG stellt den zertifizierten Einsatzkräften Guidelines zur Verfügung. Mit deren Hilfe können Teams aus fremden Staaten in einem Gebiet in den Einsatz gehen, wo keine lokalen Strukturen vorhanden sind. So weiß jedes Team, wie sich die Kommunikations- und Meldestrukturen sowie die Einsatzkoordinierung zusammensetzen.
Verlegung in den Einsatzraum
Abgestützt auf diese Struktur, erreichte das Vorkommando am 7. Februar 2023 mit einer C-130 „Hercules“ den Entry-Point am Flughafen Adana und nahm sofort Verbindung mit dem Reception & Departure Center der Vereinten Nationen auf. Schnell wurde klar, dass die Region Hatay und vor allem die Stadt Antakya am stärksten von dem Beben betroffen waren.
Rasch entschloss sich Kontingentskommandant Major Bernhard Lindenberg, das Vorkommando in zwei Gruppen zu teilen. Eine Gruppe verblieb am Flughafen und kümmerte sich mit dem Kontaktmann zur österreichischen Außenwirtschaftsstelle um ausreichend Transportraum, damit das hereinkommende Team mit Gerät und Personal schnell in die Region Hatay verlegt werden konnte. Lindenberg fuhr mit der anderen Gruppe Richtung Antakya ab. Vor Ort angekommen, musste das Urban Search and Rescue Coordination Center (UCC) der Vereinten Nationen gefunden werden. Dieses befand sich am Rande der Stadt beim EXPO-Gelände, das 2021 installiert worden war. Dort bekam die österreichische Truppe erste Informationen und startete die Erkundung.
Vor Ort bot sich den Helfern ein Bild der Zerstörung. Beinahe jedes Haus war beschädigt. Strom, Gas und Wasser waren nicht verfügbar. Überlebende scharten sich um Lagerfeuer und versuchten so, die eiskalten Nächte zu überstehen. Ganze Straßenzüge waren von eingestürzten Gebäuden blockiert – ein Vorankommen war oft nur zu Fuß möglich. Nach der Erkundung wurde den Österreichern ein erster Sektor zugewiesen, und der Kontingentskommandant bereitete die Aufnahme des Teams vor, das mittlerweile in Adana gelandet war. Ziel war es, dass zwei Rette- und Bergegruppen sofort zu arbeiten begannen, sobald sie in Antakya angekommen waren. Denn es zählte jede Minute!
Herausforderung Logistik
Die gesamte Ausrüstung musste aus Österreich herangeführt und verzollt werden. Daher musste die Ausrüstung bereits im Vorfeld zusammengestellt und eingelagert sein. Im Einsatz werden dann nur noch minimale Anpassungen gemacht. Sämtliche Papiere müssen durch das Kontingent mitgeführt, am Ankunftsflughafen kontrolliert und an das Reception & Departure Center übergeben werden. Dieses hält die Listen evident. Bei der Ausreise muss das Gerät wieder diesen Listen entsprechen.
Zusätzlich sind die strengen Bestimmungen für den Lufttransport einzuhalten. So konnten keine Betriebsmittel transportiert werden. Auch Akkus und Gefahrgut wie Dekontaminationsmittel müssen dementsprechend verpackt und dimensioniert sein. Ausrüstung, die nicht flugtauglich ist, wird nicht herangezogen. Das Personal der Außenwirtschaftsorganisation, das mit den lokalen Gegebenheiten vertraut ist, unterstützte AFDRU bei allen Formalitäten und brachte das Kontingent rasch durch die Zollkontrolle. Die türkischen Behörden waren bemüht, die Einheit unkompliziert und schnell in das Land zu lassen, ging es doch darum, möglichst rasch wirksam werden zu können. Der Transport und Unterstützungsbedarf dafür wurde schon am 6. Februar 2023 vor der Entsendung kommuniziert, damit bei Ankunft des Kontingentes Sattelschlepper und Busse zur Verfügung standen.
Rette- und Bergeeinsatz
Als das Kontingent in Antakya eintraf, begannen zwei Gruppen sofort im zugewiesenen Sektor zu arbeiten. Eine Gruppe besteht aus 17 Personen inklusive des Notarzttrupps und des Suchhundetrupps sowie zwei Hunden. Das Camp-Element und die dritte Rette- und Bergegruppe bauten währenddessen innerhalb weniger Stunden das Camp auf, und das Kommando nahm den Gefechtsstand in Betrieb.
Von diesem Zeitpunkt an lief der Einsatz nach System. In allen Bereichen wurde in Schichten gearbeitet, da es an den beiden Schadstellen einsatztechnisch keine Ruhezeiten gab. Außerdem mussten das Camp durchgehend betrieben werden und der Gefechtsstand permanent besetzt sein. Zweimal am Tag fand eine internationale Koordinierung der Teams statt. Dabei wurden Informationen ausgetauscht und die Anzahl der geretteten Personen erfasst. Da das UCC von zwei AFDRU-Verbindungsoffizieren unterstützt wurde, konnten auch untertags Informationen ausgetauscht werden.
Base of Operations
Das Basislager (Base of Operations) ist eine internationale Zeltstadt am Rande eines betroffenen Gebietes. In der Regel gibt es dort keine Infrastruktur, die genutzt werden kann. Es ist wichtig, Abstand zu allen Objekten zu halten, die bei einem Nachbeben einstürzen könnten. Daher wurde eine geschotterte freie Fläche circa zwei Kilometer außerhalb von Antakya gewählt, wo sich mehrere Teams in Zeltstädten mit allem Notwendigen, um zehn Tage zu bestehen, einrichteten. Kommandozelte, Duschen, Unterkünfte und Sanitätszelte wurden aufgebaut, Strom über Aggregate erzeugt und die Zelte beheizt. Für den Betrieb einer Zeltstadt verfügt AFDRU über ein eigenes Camp-Team. In der Zeltstadt mussten Grundbedürfnisse der Rettungskräfte gedeckt und ein Rückzugsort für die Regeneration geschaffen werden. Eine zwölfköpfige Rette- und Bergegruppe war in einem Zelt untergebracht. Das Kommando schlief direkt im Gefechtsstand, und der Dienstführende Unteroffizier arbeitete in seinem Unterkunftszelt. Gegessen wurde auf dem Feldbett.
Die Gerätelisten für einen derartigen Einsatz bestehen aus dem Gerät für zwei Rette- und Bergegruppen, aus Sanitätsmaterial für drei Notarzttrupps, Gerät für das ABC-Analyseelement, Camp-Gerät und Reparatursätzen. Die Ausstattung der Personen ist auf das Wesentliche reduziert. Private Bekleidung oder Ausrüstung wurde nicht mitgenommen. Die Einsatzdauer hängt mit der Aufgabe des Teams und der Überlebenswahrscheinlichkeit von Verschütteten nach den spezifischen Umständen einer Katastrophe zusammen. AFDRU ist ein Such- und Rettungsteam. Die Bergung von Leichen und die schweren Räumarbeiten mit Kränen und Baggern fällt nicht in ihr Aufgabengebiet. Des Weiteren sinkt die Überlebenschance für eingeschlossene Personen mit jeder Minute. Daher spricht man von den „goldenen 100 Stunden“ nach einem Beben, in denen Rettungsteams wirksam werden müssen. Danach ist es unwahrscheinlich, noch Lebendrettungen durchzuführen. Dazu kommt die psychische und physische Belastung für das Team. Das Stresslevel ist hoch und erholsamer Schlaf praktisch unmöglich. Das sind Gründe, warum INSARAG Urban-Search-and-Rescue-Einsätze mit einer Dauer von zehn Tagen festgelegt hat. Danach sind Ablösen der Teams möglich. Auch die Entsendung eines anderen Teams mit anderen Fähigkeiten wie Wasseraufbereitung oder Dekontamination ist denkbar.
Zusammenarbeit mit den lokalen Hilfskräften
Von einem Erdbeben in diesem Ausmaß sind auch lokale Rettungs- und Hilfskräfte betroffen. Das UCC steht in permanentem Austausch mit den lokalen Behörden und Einsatzleitungen, um im Sinne des betroffenen Staates zu arbeiten. Danach werden die internationalen Teams mit den Aufträgen der nationalen Einsatzleitung betraut. Die Zusammenarbeit von AFDRU mit den nationalen türkischen Teams verlief professionell und ruhig. AFDRU wurde vor Ort wertgeschätzt und die Österreicher unterstützten Einheiten der nationalen Kräfte, wo es nur möglich war. Die betroffenen Menschen waren freundlich und zuvorkommend. Selbst als das Zeitfenster, um Menschen noch lebend zu retten, enger wurde, entstanden keine Aggressionen oder sicherheitsrelevanten Bedenken gegenüber AFDRU. Im Kontingent gab es drei Soldaten, die die türkische Sprache beherrschen. Die Kontaktpersonen vor Ort sprachen Englisch. In manchen Situationen entstand jedoch der Bedarf an weiteren Sprachmittlern, die durch das Urban Search and Rescue Coordination Center zur Verfügung gestellt wurden.
Sicherheit im Einsatz
Die eigene Sicherheit ist die oberste Prämisse im Einsatz. Nicht nur, um sich selbst zu schützen, sondern auch, weil das medizinische System im Einsatzraum ohnehin überfordert ist. Aus diesem Grund waren drei Notarztteams Teil des Kontingentes. Die Ausbildung ist der Schlüssel für einen sicheren Einsatz. Nur wenn alle Handgriffe sitzen, Evakuierungsverfahren bekannt und automatisiert sind, kann das Team in einem schwierigen, teilweise unberechenbaren Umfeld arbeiten. Die eingefallenen Straßenzüge waren eng, und es gab wenig offene Bereiche, an denen ein sicherer Aufenthalt überhaupt möglich war. Vor allem während der Phase der Extraktion, wenn die Retter in die zertrümmerten Gebäude vordrangen, war die Lage angespannt.
Zurück in die Heimat
AFDRU war bis Sonntag, 12. Februar 2023, im Einsatz. Mit 13. Februar begann die Rückorganisation. Das österreichische Camp wurde abgebaut und am Folgetag zurück nach Adana verlegt. Aus Österreich kam ein fünfköpfiges Team, das die Verzollung von Ausrüstung und Gerät durchführte und alles flugtauglich verlud. Das Kontingent selbst begann mit den psychologischen Nachgesprächen und dem Lessons-Identified-Prozess. Am 16. Februar 2023 ging es mit der gecharterten Austrian-Airlines-Maschine retour nach Österreich. Auf dem Flughafen Schwechat empfing eine große Schar dankbarer Menschen die Einsatzkräfte herzlich. Sie bekamen Rosen, Schokolade und Dankeskarten.
Nachbereitung
Drei Tage nach Ankunft des Einsatzteams begann im ABC-Abwehrzentrum die Nachbereitung. Das gesamte Team wurde medizinisch gecheckt, sämtliches Gerät gewartet, wenn notwendig repariert und ergänzt, um es danach einsatzbereit wieder zu verstauen. Bereits wenige Tage nach Einsatzende war die Einsatzbereitschaft wiederhergestellt.
Lessons Learned
Nach jedem Einsatz wird ein Lessons- Identified-Prozess gestartet. Im Türkei-Einsatz wurde festgestellt, dass die Camp-Ausrüstung teilweise schon veraltet und daher für heutige Verhältnisse zu schwer und zu groß ist. Es bedarf auch einer größeren Erstausstattung an Betriebsmitteln, um das Camp zu betreiben. Die 30 Jahre alten DRASH-Zelte sind am Ende ihrer Lebensdauer angekommen und müssen ersetzt werden. Die Erprobung neuer Zelte ist bereits abgeschlossen.
Auch die Einsatzbekleidung von AFDRU ist in die Jahre gekommen. Sie entspricht zwar noch grundsätzlich den Normen, war aber nie als Rette- und Bergebekleidung konzipiert worden. Mittlerweile gibt es eine funktionellere Bekleidung, die den Schutz und die Durchhaltefähigkeit der Retter verbessern kann. Die Fähigkeiten, die AFDRU im Einsatz anwendet, sowie das hohe Level, auf dem gearbeitet wird, sind der militärischen Ausbildung geschuldet. Die Soldaten sind daher auch an Entbehrungen gewöhnt. Das ist notwendig, da sich ein derartiger Einsatz nur durch das Fehlen eines Gegners von einem klassischen militärischen Einsatz unterscheidet. Für Rette- und Bergesoldaten macht es wenig Unterschied, da ihre Aufgabe in der militärischen Landesverteidigung die gleiche ist wie im internationalen Katastropheneinsatz, nämlich Menschen zu retten. Die Intensität, das Umfeld, die Zerstörung und das Leid auf den Straßen erinnern an Bilder von Kriegsschauplätzen. Wer wäre da besser geeignet, als Soldaten in einer humanitären Mission?
Link zu den Erlebnisberichten des AFDRU-Kontingentes
Major Bernhard Lindenberg, BA; Kontingentskommandant AFDRU-Einsatz Türkei, ABC-Abwehrzentrum.
Selina Lukas, Bakk. phil., MA; Redakteurin beim TRUPPENDIENST.