• Veröffentlichungsdatum : 13.02.2024
  • – Letztes Update : 21.03.2024

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NATO-Ostflanke: Higher Command Studies Course

Pascal Riemer

Das Baltic Defence College wurde 1999 von den Staaten Estland, Lettland und Litauen gegründet. Neben der Forschung steht die Lehre und Ausbildung in der Führung auf der (militär-)strategischen und operativen Ebene im Mittelpunkt. Erstmals seit zehn Jahren nahm ein österreichischer Offizier daran teil.

Das regionale Umfeld – Die NATO-Ostflanke

Gemeinsam mit Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien sowie seit 2023 auch Finnland bilden die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen die sogenannte NATO-Ostflanke. Insbesondere die geografische Nähe zu Belarus und der Russischen Föderation (RF) – Kaliningrad hier mit eingeschlossen – machen das Baltikum zu einer sicherheitspolitisch exponierten Region. Obgleich die baltischen Staaten ihre Verteidigungsausgaben seit ihrem NATO-Beitritt im Jahr 2004 stetig erhöht haben, wurden diese Bemühungen als nicht ausreichend bewertet, um Russland nach der erfolgreichen Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 auch weiter abzuschrecken. Aus diesem Grunde beschloss die NATO im Jahr 2016, die Enhanced Forward Presence (EFP) einzurichten, die sich aus vier Battle Groups mit insgesamt 5 000 Soldaten zusammensetzt und vor Ort stationiert ist. Neben diesen Kräften stehen der NATO auch bereitgehaltene Truppen der NATO Response Force (NRF) mit insgesamt 50 000 Soldaten für einen etwaigen Einsatz zur Verfügung. Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erfolgte der Beschluss, sowohl die EFP als auch die NRF aufzustocken. Während die im Baltikum vorwärts stationierten Kräfte auf vier Brigaden anwachsen sollen, erfährt die schnelle Eingreiftruppe einen Ausbau auf 300 000 Soldaten.

Ausbildung am Baltic Defence College

Die Stadt Tartu ist rund 30 km westlich des Peipus-Sees gelegen und mit etwa 100 000 Einwohnern der zweitgrößte urbane Raum Estlands. Sie erweist sich als das kulturelle und zugleich wissenschaftliche Zentrum des nördlichsten Baltenstaates. In diesem Umfeld wurde das Baltic Defence College (BALTDEFCOL) im Jahre 1999 als sichtbares Zeichen der tiefgreifenden Kooperation zwischen den Staaten Estland, Lettland und Litauen gegründet. Im Zentrum steht hierbei neben der Forschung die Lehre und Ausbildung sowohl von militärischem als auch zivilem Personal im Bereich der Führung auf der (militär)strategischen und operativen Ebene von NATO-Alliierten, EU-Mitgliedstaaten und anderen ausgewählten Partnernationen. Zurückzuführen auf die in allen Bereichen des Dienstbetriebes zur Anwendung gelangende Arbeitssprache Englisch, besteht nicht nur im Lehr- und Verwaltungskörper, sondern auch bei den Lehrgangsteilnehmern ein hoher Grad an Multinationalität. Die angebotenen Kurse orientieren sich an einem vierstufigen System der baltischen Rahmennationen für die militärische Ausbildung. Die ersten beiden Stufen, die sich mit der Offiziersgrundausbildung und der Offiziersweiterbildung auf der taktischen Ebene befassen, fallen in die jeweilige nationale Zuständigkeit. Das BALTDEFCOL hingegen fokussiert sich auf die Ausbildung der dritten und der vierten Stufe. In der dritten Stufe folgt der einjährige Joint Command and General Staff Course für die operative Ebene und in der vierten Stufe der mit sechs Monaten umfassende Higher Command Studies Course auf der militärstrategischen Ebene.

Der Higher Command Studies Course 2023

Als erster österreichischer Teilnehmer seit zehn Jahren nahm der Autor, Major des Generalstabsdienstes Pascal Riemer, Hauptlehroffizier Taktik am Institut 1 der Theresianischen Militärakademie, vom 14. Jänner bis zum 23. Juni 2023 am Higher Command Studies Course 2023 (HCSC 2023) teil. Das Ziel des HCSC 2023 bestand darin, die Absolventen für die Bewältigung heutiger und zukünftiger Herausforderungen auf der militärstrategischen Ebene vorzubereiten und darüber hinaus in die Lage zu versetzen, in einer Führungsrolle wichtige Entwicklungsprogramme im Verteidigungsbereich leiten zu können. Dieser Lehrgang, der bereits im Jahr 2008 durch das NATO Allied Command Transformation (ACT) als Professional Military Education Level 4 akkreditiert sowie im Jahre 2015 in den Katalog der Ausbildungs- und Schulungsmöglichkeiten (ETOC NATO) aufgenommen wurde, stellt die höchste Ausbildungsmöglichkeit innerhalb der baltischen Staaten und der NATO für die Ebene Oberstleutnant (OF-4) und Oberst (OF-5) bzw. äquivalent geltend für zivile Bedienstete dar. Die erfolgreiche Absolvierung ist für Personen aus dem Baltikum die Grundvoraussetzung für eine Führungsfunktion auf der militärstrategischen Ebene sowie zur Beförderung zum General oder Admiral. Gemäß Eigendefinition des BALTDEFCOL erweist sich der HCSC als der Flagship Course der Institution und soll international vergleichbar sein mit dem Senior Course am NATO Defence College in Rom bzw. dem MEL-1 Resident Education Program am US Army War College in Carlisle in den USA.

Der HCSC 2023 setzte sich hierbei aus insgesamt 25 Teilnehmern aus 15 entsendenden Nationen zusammen, darunter neben solchen aus den baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen auch aus anderen NATO-Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, der Slowakei, Tschechien, Slowenien und Griechenland, aber auch aus ehemaligen Staaten der Sowjetunion wie Georgien, Moldawien und aus der Ukraine. Inhaltlich betrachtet wurde der Kurs in insgesamt sieben Module (akademische Grundlagen, das allgemeine Sicherheitsumfeld, Russland im internationalen System, strategische Führung, Verteidigungspolitik und -strategie, Verteidigungsmanagement sowie strategische Abschreckung), zwei internationale Studienreisen (nach Belgien, Polen und in die baltischen Staaten) sowie eine im Selbststudium zu erstellende Forschungsarbeit unterteilt. Trotz der eingeschränkten Ressourcenlage gelang es dem BALTDEFCOL erfolgreich, Gastvortragende auf hoher und höchster Ebene zu organisieren, um den Lehrgangsteilnehmern eine noch bessere Reflexion des zu vermittelnden Wissens zu ermöglichen. Neben den Verteidigungsministern, den Generalstabschefs sowie führenden Beamten der baltischen Staaten waren unter anderem auch der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, General Robert Brieger, der ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Generalleutnant im Ruhestand Herbert R. McMaster, der ehemalige Leiter des Internationalen Militärstabes im NATO-Hauptquartier, Air Marshal in Ruhe Sir Christopher Harper, der ehemalige britische stellvertretende Generalstabschef, Generalleutnant in Ruhe Douglas McKenzie Chalmers, der Chef des Verteidigungsstabes der schwedischen Streitkräfte, Generalleutnant Michael Claesson, sowie der Vizepräsident von Advanced Concepts Airbus Defence and Space, Professor Dr. Holger Mey, als hervorzuhebende Vortragende zu Gast am HCSC 2023.

Modul 1: Das allgemeine Sicherheitsumfeld

Ziel dieses Moduls war es, den Lehrgangsteilnehmenden ein Verständnis für das gegenwärtige Sicherheitsumfeld und dessen Auswirkungen auf multilaterale Organisationen im Allgemeinen und die baltischen Staaten im Speziellen zu vermitteln. Begonnen wurde mit einer Einführung in die Theorien und Ansätze der internationalen Beziehungen und Sicherheitsstudien, um in weiterer Folge die wichtigsten aktuellen wie auch für die Zukunft antizipierten Triebkräfte und Trends, unter anderem technologische Entwicklungen, Klimawandel sowie populistische und extremistische Herausforderungen, zu untersuchen.

Modul 2: Russland im internationalen Umfeld

In diesem Segment der Ausbildung wurde näher auf den globalen Akteur Russland und dessen Positionen in den aktuellen internationalen Angelegenheiten eingegangen. Im Speziellen wurde untersucht, wie die Russische Föderation die gegenwärtigen geostrategischen Realitäten politisch wahrnimmt und wie sich diese auf ihre Interessen auswirken, um ihre Absichten und Fähigkeiten in Bezug auf Ambitionen im Ausland bewerten zu können. Anschließend wurden die bestimmenden Faktoren der russischen Politik gegenüber den USA, der NATO, der EU, dem Nahen Osten und der Volksrepublik China sowie im postsowjetischen Raum erläutert. Durch diese Beleuchtung der Verwirklichung der außenpolitischen Ambitionen der Russischen Föderation mit ihren verfügbaren Machtinstrumenten konnte ein vertiefendes Verständnis hergestellt werden, um konkrete Auswirkungen auf die Ostseeregion abzuleiten. Die jährlich stattfindende wissenschaftliche und hochkarätig besetzte Tagung „Conference on Russia“ in Tartu – unter anderem besuchten diese Veranstaltung der estnische und schwedische Verteidigungsminister sowie unzählige internationale Botschafter – ermöglichte den Lehrgangsteilnehmern eine weitere Vertiefung der im Modul behandelten Thematik.

Modul 3: Strategische Führung

Dieser Abschnitt führte die Lehrgangsteilnehmer in die Entwicklung der strategischen Führung ein, wobei man sich hier auf historische Fallstudien unter anderem auf die deutschen Einigungskriege, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die Jugoslawien-Kriege sowie auf den Afghanistan-Krieg konzentrierte, in denen Dilemmata der strategischen Ebene aufgezeigt wurden. Darüber hinaus wurden theoretische und konzeptionelle Instrumente und Fähigkeiten präsentiert sowie breit diskutiert, die für militärische Führungskräfte oder politische Entscheidungsträger auf dieser Ebene von Relevanz sind. Dementsprechend half das vermittelte Wissen den Lehrgangsteilnehmern, sich auf erforderliche Entscheidungsfindungsprozesse vorzubereiten und ihre Führungserfahrungen kritisch zu reflektieren. Besonders hervorgehoben werden muss in diesem Zusammenhang das als Methode verwendete und speziell für strategische Führungskräfte von der RAND-Corporation entworfene Karten- und Brettspiel „Hedgemony“.

Modul 4: Verteidigungspolitik und Strategieentwicklung

In diesem Modul wurde im Allgemeinen auf die zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen und Entwicklungen bei der spezifischen Strategieformulierung in Verbindung mit der Verteidigungspolitik auf nationaler, bilateraler und multilateraler Ebene eingegangen. Das Modul begann mit einem Überblick über bestehende Theorien zur Strategieformulierung unter anderem über Carl von Clausewitzens Zweck-Ziel-Mittel-Achse und die Instrumente der Macht in Form von DIME (Diplomacy, Information, Military, Economy). In weiterer Folge setzte man sich näher mit den aktuellen Trends in politischen, militärischen, wirtschaftlichen, administrativen und soziologischen Bereichen der Verteidigungspolitiken der baltischen Staaten auseinander. Diese Erkenntnisse dienten den Auszubildenden als Grundlage für die Übung „Strategic Formulator“, bei der Verteidigungsstrategien für die einzelnen baltischen Staaten erstellt wurden.

Modul 5: Verteidigungsmanagement

Dieser Teil der Ausbildung stellte den Lehrgangsteilnehmern Instrumente zur Untersuchung, Bewertung und Formulierung von Strategien und Planungen im Verteidigungsmanagement – unter anderem die Stakeholder-Analyse, die SWOT-Analyse, die Kulturdimensionen nach Geert Hofstede sowie das Eisenhower-Prinzip – vor. Das Modul begann mit einem allgemeinen Überblick über die Verteidigungsökonomie und das Ressourcenmanagement. Anschließend konzentrierte es sich auf die Erarbeitung von Lösungen im Zusammenhang mit der Entwicklung, Beschaffung und Aufrechterhaltung von Fähigkeiten sowie der Verwaltung von Humanressourcen. Im Modul wurde auch der Aufbau nationaler, multinationaler und kollektiver Fähigkeiten von Streitkräften näher erörtert. Diese Erkenntnisse dienten den Lehrgangsteilnehmern als Grundlage für eine Übung, bei der für einen ausgewählten baltischen Staat, unter Beachtung von finanziellen, materiellen, infrastrukturellen und personellen Rahmenbedingungen, Empfehlungen für eine wirksame Verteidigungsplanung bei eingeschränkten Mitteln ausgesprochen wurden.

Modul 6: Stärkung der Abschreckung durch Kooperation

In diesem Modul wurden die Lehrgangsteilnehmer an die Thematik der Abschreckung näher herangeführt mit dem Ziel, einen erfolgreichen Beitrag zur Entwicklung und Umsetzung glaubwürdiger Abschreckungsstrategien für die baltischen Staaten unter Berücksichtigung regionaler und alliierter Synergien zu leisten. Die Lehrveranstaltung begann mit einer Analyse des theoretischen Rahmens und der konzeptionellen Modelle für den Begriff der Abschreckung, unter anderem deterrence by denial/punishment, permanent/imidiate deterrence sowie die „holy trinity of deterrence“ (capabilites, credibility, communication). Anschließend wurden die Bedrohungen und die damit verbundenen Risiken, ausgehend von Russland, Belarus und der Volksrepublik China, sowie die derzeit gültigen Konzepte und Fähigkeiten der Alliierten zur Abschreckung in der Ostseeregion näher betrachtet. Die getroffenen Ableitungen dienten den Lehrgangsteilnehmern als Grundlage für die Übung „Strategic Deterrer“, bei der ein Lösungsvorschlag für eine glaubwürdige Abschreckungsstrategie durch Kooperation für die baltischen Staaten unter Berücksichtigung aller gewonnenen Erkenntnisse der bisherigen Module für das Jahr 2032 formuliert wurde.

Internationale Studienreisen

Den Schwerpunkt der ersten internationalen Studienreise bildeten die NATO, die EU und ausgewählte alliierte Staaten. Dabei bot sich die Gelegenheit, sich neben der Strategieentwicklung auf Bündnisebene auch mit der Verteidigungspolitik Belgiens und Polens zu befassen. Die Präsentationen ermöglichten den Lehrgangsteilnehmern aktuelle Einblicke in die jüngsten Entwicklungen des sich verändernden Sicherheitsumfeldes sowie sich einen generellen Überblick über die Kernaufgaben und die laufenden Aktivitäten aller Domänen dieser Organisationen und der genannten Staaten zu verschaffen. Der Schwerpunkt der zweiten internationalen Studienreise lag hingegen auf dem Besuch der Hauptstädte der baltischen Staaten, um sich mit den wesentlichen Entscheidungsträgern sowie Experten im Bereich der nationalen Sicherheit, Verteidigung und Kommunikation auszutauschen, um die bisher gewonnen Erkenntnisse, aber im Besonderen die Inhalte des Moduls 6 (Abschreckung) zu reflektieren und zu vertiefen. Die Besuche umfassten unter anderem nationale Präsidentschaftskanzleien, Parlamente, Verteidigungsministerien, Verteidigungseinrichtungen und Denkfabriken.

Resümee

Der Kurs fokusiert sich besonders auf die NATO-Ostflanke mit dem Raum der Ostsee, die Bedrohungsperzeptionen der westlichen Anrainerstaaten gegenüber Russland, Belarus aber auch auf die Volksrepublik China. Die grundsätzlich angewandte Methode des Kursaufbaues war deduktiv (sprich vom Allgemeinen zum Spezifischen) und folgte den didaktischen Prinzipien des kategorialen Lernens, der Problem-, Wissenschafts- und Handlungsorientierung. Dies gestaltete sich dermaßen, dass Frontalvorlesungen von wissenschaftlichen
Forschern und Führungskräften der (militär)strategischen Ebene stets mit Diskussionsrunden in einem austarierten Verhältnis verbunden wurden. Obgleich die Entsendung eines Offiziers eines militärisch neutralen und zugleich bündnisfreien Staates zum HCSC eine gewisse Ausnahme für das BALTDEFCOL darstellte, erwies sich dieser Umstand nicht unbedingt als Nachteil. Vielmehr war das Gegenteil der Fall und dem wissenschaftlichen Diskurs förderlich, nachdem den Vortragenden und den anderen Lehrgangsteilnehmern auch weitere, bisher verschlossen gebliebene Perspektiven zu den behandelten Thematiken aufgezeigt werden konnten. Als sichtbares Zeichen der Honorierung hierfür kann die Veröffentlichung der Forschungsarbeit des Autors mit dem Titel „Auftragstaktik and its implication on the military strategic level“ als einer der am besten bewerteten wissenschaftlichen Artikel im Publikationsmedium des BALTDEFCOL „Ad Securitatem“ betrachtet werden.

Major dG Mag.(FH) Pascal Riemer, PhD; Taktiklehrer an der Theresianischen Militärakademie.


Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 4/2023 (394).

Zur Ausgabe 4/2023 (394)


 

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