• Veröffentlichungsdatum : 17.11.2022

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Die ausgeblendete Gefahr

Erwin Richter

Der Ukraine-Krieg 2022 hat „alte Gespenster“ zu neuem Leben erweckt wie die erhöhte Radioaktivität in der Gegend um das 1986 havarierte Kernkraftwerk Tschernobyl aufgrund russischer Truppenbewegungen oder die Gefahr einer nuklearen Katastrophe durch die Kampfhandlungen auf dem Gelände des Atomkraftwerkes von Saporischschja. Zusätzlich weckt die andauernede unverhohlene Androhung eines Einsatzes von Nuklearwaffen durch die Erhöhung der Einsatzbereitschaft der „strategischen Abschreckungskräfte“ Russlands vergangene Erinnerungen.

Das volle Spektrum der ABC-Bedrohung mitsamt der lancierten Anschuldigung, dass die Ukraine biologische Labors zur Erforschung völkerrechtlich verbotener Waffen unterhalte, gekoppelt mit dem gezielten Beschuss chemischer Industrieanlagen in Sumy bei Charkiw zeigen, dass die ABC-Gefahr nach dem Ende des Kalten Krieges eigentlich nie weg, sondern eher „ausgeblendet“ war. Manche dieser Androhungen mögen Kriegsrhetorik sein, doch die ABC-Bedrohung bleibt ein realer und nicht vernachlässigbarer Faktor, vor allem dann, wenn eine Partei sich permanent den internationalen Regeln widersetzt. Diese Problematik wird die internationale Staatengemeinschaft bei ihren Rüstungskontroll- und Abrüstungsbemühungen noch fordern. 

Die ABC-Situation im Ukraine-Krieg hat auch unmittelbare Konsequenzen für das knapp mehr als 1 000 km entfernte Österreich, das gegebenenfalls mit Auswirkungen von ABC-Einsätzen im Kriegsgebiet rechnen muss. Eine „Insel der Seligen“ gibt es im Falle der Freisetzung radioaktiver, biologischer oder chemischer Gefahrstoffe nicht. ABC-Gefahren kennen keine Grenzen und bedrohen Militär und Zivilbevölkerung gleichermaßen. Mangelnder ABC-Schutz eröffnet zudem potenzielle Angriffsflächen und erhöht die Vulnerabilität von Truppe und Zivilbevölkerung in erheblichem Ausmaß.

Zwingend erforderlich ist es, sich der möglichen ABC-Gefahren und Risiken bewusst zu werden und rasche sowie zielgerichtete Maßnahmen zu setzen. Es ist notwendig allfällige Entwicklungen zu beobachten, einzuschätzen und in einem aktuell gehaltenen Bedrohungsbild zu erfassen. 

Was muss nun im Bundesheer geschehen?

ABC-Gefahren lauern überall, nicht nur auf dem Gefechtsfeld sondern auch weit außerhalb von Kriegs- und Konfliktgebieten. Die zunehmende Nutzung von ABC-Gefahrstoffen in Industrie, Technik und Forschung haben das Potenzial die militärische Auftragserfüllung vehement zu beeinflussen. Das erfordert eine ebenenadäquate Abbildung in allen Führungsausbildungen. Kommandanten aller Führungsebenen müssen die Diffizilität der ABC-Bedrohungen verstehen, ihre Effekte und möglichen ABC-Schutzmaßnahmen kennen, über deren Auswirkungen auf die Auftragserfüllung unter ABC-Bedingungen einschließlich der zu erwartenden Folgen für die Truppe im Bilde sein.

Stäbe und Führungseinrichtungen müssen sich ernsthaft und unter Einbindung der ABC-Abwehrfachdienste mit ABC-Szenarien auseinandersetzen, sei es in Form von Planspielen oder bestenfalls bei Übungen. 

Die ABC-Abwehrtruppe muss hinsichtlich Qualität und Quantität so aufgestellt sein, dass das gesamte Spektrum der ABC-Gefahren über einen längeren Zeitraum abdecken kann und internationalen Standard entspricht. Dies erfordert eine rasche und permanente Ausrichtung des Fähigkeitenprofils und Ausrüstung mit State-of-the Art-Geräten.

Die ABC-Abwehr aller Truppen muss das Überleben der Truppe und die Auftragserfüllung für einen bestimmten Zeitraum gewährleisten können. Der ABC-Individualschutz ist die Basis aller ABC-Abwehrmaßnahmen. Er darf nicht vernachlässigt und als „lästige Nebentätigkeit“ angesehen oder gar unterlassen werden. Er umfasst das Wissen um die ABC-Gefahren einschließlich dem Schutz vor deren Auswirkungen. Das Wesentliche dabei ist die Kenntnis über die Handlungen, die in Eigenverantwortung oder auf Befehl von jedem zu treffen sind. Diese Maßnahmen sichern das Überleben des Einzelnen. Diese Ausbildung nutzt über die Dauer des Wehrdienstes hinaus und leistet einen wesentlichen Beitrag zum Zivilschutz sowie zum gesamtstaatlichen Bevölkerungsschutz. 

All das sind Folgerungen und Forderungen, die gar nicht so neu sind. Aber die Situation erfordert es, sie wieder etwas mehr in das Blickfeld zu rücken.

Oberrat Oberst dhmfD Erwin Richter, MA; Leiter des Referates höhere Fachausbildung und Wissensmanagement am ABC-AbwZ.

 

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