Die Migrations- und Flüchtlingskrise
... aus Brüssel: Migration ist kein Problem von Einzelstaaten. Sie ist ein globales Phänomen, das uns in Zukunft begleiten wird. Um diesem zu begegnen, bedarf es einer umfassenden europäischen Strategie. Diese muss von Solidarität und Menschenwürde getragen sein, ohne dabei die Sicherheit zu vernachlässigen. Auf diesen Werten basiert die Europäische Union. Diese gilt es zu bewahren und in Zeiten des Terrors zu verteidigen.
Eine europäische Perspektive
Nach einer Abfolge von Krisen - wie der Finanz- und Wirtschaftskrise, der Eurokrise, der Krim- und Ukrainekrise - ist die Migrations- und Flüchtlingskrise die bisher größte sicherheitspolitische und gesellschaftliche Herausforderung der Europäischen Union (EU).
Wird die Europäische Union daran scheitern und sich entlang nationaler Egoismen spalten? Hat die Europäische Union rechtzeitig reagiert oder das Problem zu lange negiert? Welche Maßnahmen und Richtlinien wurden bisher durch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs vorgegeben und wie sieht es mit deren Umsetzung aus? Welchen Einfluss und welche Mitwirkungsmöglichkeiten hat die Militärvertretung Brüssel? Gibt es überhaupt eine Lösung und wie könnte diese ausschauen?
Nachfolgend wird auf diese Fragen eingegangen und ein Überblick über das Krisenmanagement der Europäischen Union in der Flüchtlings- und Migrationskrise vermittelt.
Hintergründe und Ursachen
Krisen, Konflikte, Kriege, Terror und Schreckensherrschaft, fragile Staaten, humanitäre Katastrophen, Klimaveränderungen, Armut, wirtschaftliche Perspektivenlosigkeit und fehlende Zukunftsaussichten sowie politisch, ethnisch oder religiös motivierte Verfolgung. Das sind nur einige der Ursachen, warum Menschen zumeist unter Zwang ihre Heimat verlassen. Der Anstieg der Migrations- und Flüchtlingszahlen spiegelt die Entwicklungen in den derzeitigen Konflikt- und Krisenregionen (vor allem in Syrien, im Irak und in Afghanistan). Er zeigt die Aussichtlosigkeit der Flüchtlinge, die vorerst in zahlreichen Flüchtlingslagern Schutz fanden. Diese Lager befinden sich in den Nachbarländern, wie der Türkei, Jordanien und dem Libanon.
Es ist die fehlende Perspektive in den Flüchtlingslagern, ohne Vision und Hoffnung auf eine gesicherte Zukunft in der Heimat, die teilweise menschenunwürdige Unterbringung, unzureichende Versorgung und fehlende Bildungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten, die immer mehr Menschen dazu veranlasst, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Nicht vergessen darf man die Millionen Binnenflüchtlinge, die sich noch in den von Krisen, Konflikten und Kriegen betroffenen Ländern befinden.
Die Migrations- und Flüchtlingskrise kam nicht überraschend. Sie war an den Küsten Italiens und Griechenlands schon seit einigen Jahren deutlich zu sehen. Die gesamteuropäische Wahrnehmung erfolgte zeitverzögernd, negierend und wegschiebend. Die Politik und die Gesellschaft waren daher nicht auf die Krise vorbereitet. Die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer des Sommers 2015 mit hunderten Toten lösten ein mediales, politisches und gesellschaftliches Erdbeben aus. Sie erschütterten die Europäische Union mit voller Wucht.
Eine zunehmende Begleitbedrohung, die mit der Migrations- und Flüchtlingskrise einhergeht ist die latente Sicherheitsgefahr. Diese entsteht durch den eingeschleppten fundamentalistischen Terrorismus - vor allem aus den Kriegsgebieten Syrien, Irak und Afghanistan. Die Terroranschläge der jüngsten Vergangenheit in Paris und Brüssel sind ein warnendes Zeugnis dafür.
Flüchtlings- und Migrationsrouten
Die Flüchtlings- und Migrationsrouten lassen sich geografisch im Wesentlichen entlang einiger, seit Jahrhunderten bekannten, Land- und Seerouten definieren. Dennoch gestalten sich diese im Detail sehr flexibel und passen sich veränderten Gegebenheiten rasch an. Für die Profiteure der Flüchtlings- und Migrationsströme - Schlepper, Schmuggler und die Netzwerke der Organisierten Kriminalität - ist Migration ein Milliardengeschäft mit geringem Risiko.
Aktuell existieren drei Hauptrouten:
- die westliche Mittelmeerroute,
- die zentrale Mittelmeerroute und
- die östliche Mittelmeer-/Westbalkanroute.
Weniger frequentierte Routen sind die westafrikanische Route, die Apulien- und Kalabrien- sowie die östliche Landroute. Die ersten massiven Flüchtlings- und Migrationsströme erfolgten über die zentrale Mittelmeerroute. Aufgrund der Gefährlichkeit und Unbeständigkeit dieses Weges über das Meer gewann die östliche Mittelmeer-/Westbalkanroute an Bedeutung. Die dadurch explodierenden Flüchtlings- und Migrationszahlen überforderten die betroffenen Transit- und Zielstaaten.
Europäische Verantwortung
Europa kann sich der Flüchtlingsströme nicht entziehen. Eine Festung Europa ist nicht zu verteidigen - weder politisch noch militärisch und schon gar nicht moralisch. Europa muss bestrebt sein, sowohl die völkerrechtlichen Verpflichtungen als auch seine humanitäre Verantwortung wahrzunehmen. Schutz und Asyl sind grundlegende Menschenrechte.
Flüchtlinge haben, basierend auf internationalen und europäischen Erklärungen und Konventionen (gemeinsame Erklärung der Menschenrechte, Genfer Flüchtlingskonvention, Charta der Grundrechte der EU), einen Rechtsanspruch auf die Gewährung von Schutz und Asyl. Die Einigkeit und Glaubwürdigkeit Europas steht hier auf dem Spiel.
Europäische Maßnahmen und ihre Umsetzung
Der Ausweg aus der europäischen Migrations- und Flüchtlingskrise sollte von einer gemeinsamen Lösung getragen sein. Sie sollte auf Verantwortung, Solidarität und der Umsetzung von, teilweise bereits beschlossenen, umfassenden und nachhaltigen Maßnahmen basieren. Die Verteilung von etwa einer Million Schutzsuchenden auf 28 EU-Mitgliedstaaten mit etwa 550 Millionen Einwohnern sollte kein Problem darstellen. Soweit die Theorie.
Auf europäischer Ebene fanden zahlreiche Sondertreffen und Arbeitssitzungen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs (Europäischer Rat), der verschiedenen Ministerformationen (Rat der Europäischen Union), der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlamentes sowie Besprechungen zahlreichen Sonder- und Ad-hoc- Arbeitsgruppen statt. Dies geschah unter Einbindung der EU-Mitgliedstaaten, sämtlicher EU-Institutionen, internationaler Organisationen, der Zivilgesellschaft und der Partnerländer. Unzählige Vorschläge und Richtlinien wurden dabei ausgearbeitet, vielseitige Beschlüsse behandelt, umfassende Maßnahmen beschlossen, mannigfaltige Finanzhilfe zugesagt und zahlreiche Schlussfolgerungen verabschiedet.
Die meisten dieser Maßnahmen wurden jedoch noch nicht umgesetzt. Auf politisch-strategischer Ebene wäre die Thematik, zumindest theoretisch, aufbereitet worden, wenn die Spirale der nationalen politischen Egoismen und gesellschaftlichen Vorbehalte nicht eingesetzt hätte. Die Flüchtlings- und Migrationskrise hat politische Spannungen auf europäischer Ebene ausgelöst, die sich auf die nachbarschaftlichen Beziehungen und die europäische Gesellschaft auswirken. Eine weitgehende Fragmentierung der Europäischen Union in der Flüchtlings- und Migrationsdebatte ist die Folge.
Europa und damit die einzelnen Mitgliedstaaten waren und sind politisch und gesellschaftlich überfordert. Die Europäische Union, vor allem die Europäische Kommission, haben sich schon früh mit Migration und ihren Auswirkungen beschäftigt. Das Schengener-Abkommen und das Dublin-Übereinkommen gelten als wesentliche und zukunftsweisende Schlussfolgerungen. Allerdings wurde die notwendige Anpassung an die internationale politische Realität verabsäumt und die Auswirkungen von Krisen und Konflikten nicht berücksichtigt.
In der europäischen Migrationsagenda und dem EU-Aktionsplan wurden umfassende Maßnahmen aufgezeigt, um die Migrations- und Flüchtlingskrise nachhaltig zu bewältigen. Als wesentliche Elemente wurden die
- effiziente Sicherung der EU-Außengrenze,
- die Bekämpfung und Zerschlagung der organisierten Schleppernetzwerke,
- eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik und
- Möglichkeiten der legalen Migration beschrieben.
Darüber hinaus wurden zahlreiche Sofort- und Notmaßnahmen ausgearbeitet:
- Bekämpfung von Ursachen in den Konfliktregionen;
- permanenter Aufteilungsmechanismus;
- die gemeinsame Ausarbeitung einer aktuellen Liste sicherer Herkunftsländer;
- Erhöhung finanzieller Mittel für Entwicklungsmaßnahmen;
- eine einheitliche Rückkehr- und Rückübernahmepolitik in Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern;
- Errichtung und Sicherstellung der Funktionsfähigkeit von Hotspots an der EU-Außengrenze;
- die Schaffung einer gemeinsamen Grenz- und Küstenwache;
- der EU-Türkei-Aktionsplan.
Viel wurde europäisch beschlossen - wenig jedoch national umgesetzt.
Ursachenbekämpfung durch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)
Die Flüchtlings- und Migrationskrise kann nur wirkungsvoll und nachhaltig gelöst werden, wenn man bereit ist, die Ursachen vor Ort zu bekämpfen. Der Europäischen Union stünden vielseitige zivile, polizeiliche und militärische Instrumente zur Krisenprävention, Krisenbewältigung und Krisennachsorge zur Verfügung.
Das Militär hätte hierbei eine wesentliche Rolle. Eingebettet in einem umfassenden Ansatz, schafft es ein sicheres Umfeld, gewährleistet Sicherheit und die dafür notwendige Struktur. Die Europäische Union führt derzeit sechs militärische und elf zivile Missionen/Operationen weltweit durch. Zwei GSVP-Missionen und eine GSVP-Operation tragen unmittelbar zur Ursachenbekämpfung der Flüchtlings- und Migrationskrise bei.
Als Folge der explodierenden Flüchtlingszahlen auf der zentralen Mittelmeerroute wurde im Juni 2015 die European Union Naval Force Mediterranean Operation Sophia (EUNAVFOR Med Operation Sophia) gestartet. Dabei handelt es sich um eine dreistufige militärische Krisenmanagementoperation der Europäischen Union. Sie bekämpft den Menschenschmuggel und Menschenhandelsnetze sowie Schleuser und deren Infrastruktur zwischen der italienischen, tunesischen und libyschen Küste.
Darüber hinaus gibt es zwei zivile Missionen zum Aufbau von Kapazitäten in der Sahel-Region: Die EU Capacity Building Mission in Niger (EUCAP Sahel Niger) seit 2012 und die EU Capacity Building Mission in Mali (EUCAP Sahel Mali) seit 2014. Sie sollen durch Ausbildung und Beratung von Polizeikräften den inneren Sicherheitssektor stärken und somit die Organisierte Kriminalität und den Terrorismus effektiv bekämpfen. Damit soll den Flüchtlings- und Migrationsströmen aus der Sahel-Region entgegengewirkt werden.
Die militärischen Ausbildungs- und Beratungsmissionen - European Union Military Advisory Mission in the Central African Republic (EUMAM RCA) und die European Union Training Mission in Mali (EUTM Mali) - unterstützen die Reform der jeweiligen nationalen Streitkräfte. Sie leisten somit einen Beitrag zur Stärkung des inneren Sicherheitssektors beziehungsweise zur Herstellung einer demokratischen Ordnung. Dadurch wird indirekt den Flüchtlings- und Migrationsbewegungen aus diesen Regionen entgegengewirkt. Österreich ist an EUNAVFOR Med Operation Sophia, EUTM Mali und EUMAM RCA beteiligt und trägt dazu bei, die Ursachen von Flüchtlings- und Migrationsströmen vor Ort zu bekämpfen.
Maßnahmen der Militärvertretung Brüssel
Die Militärvertretung Brüssel nimmt die österreichischen Interessen durch das Einbringen und Vertreten der österreichischen Positionen bei den ständigen Sitzungen des EU-Militärkomitees (EUMC) und in dessen Arbeitsgruppe (EUMCWG) wahr. Sie wirkt an themenspezifischen Sitzungen oder speziellen Ad-hoc Arbeitsgruppen beziehungsweise am direkten Dialog mit Teilen des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) mit.
Im Zuge der Flüchtlings- und Migrationskrise hat die Militärvertretung Brüssel ihre militärische Expertise und Sichtweise in die Bearbeitungsprozesse von Ratsarbeitsgruppen (vornehmlich vom Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee), Abteilungen und Ressorts in Brüssel eingebracht. Somit wurden auch militärische Handlungsoptionen innerhalb der GSVP thematisiert.
Die Militärvertretung Brüssel hat kontinuierlich auf die Problematik der Flüchtlings- und Migrationskrise auf der Westbalkanroute verwiesen. Diesbezüglich hat sie einen umfassenden Beurteilungs- und Planungsprozess, der eine GSVP-Mission am Westbalkan mitbeurteilt, gefordert. Eine weitere Initiative, um das Bewusstsein an der Problematik zu fördern, erfolgte bei der Zentraleuropäischen Verteidigungskooperation (Central European Defence Cooperation/CEDC) mit Ungarn, Slowenien, der Slowakei, Tschechien und Kroatien. Das sind jene Staaten, die unmittelbar betroffen sind und die Hauptlast der Flüchtlings- und Migrationsströme entlang der Westbalkanroute tragen.
Der EAD stand dem österreichischen Engagement skeptisch gegenüber. Das hat er in Form von abschlägigen Planungen und Beurteilungen dargelegt. Dennoch wurde auf österreichische Initiative eine regelmäßige Behandlung der Flüchtlings- und Migrationskrise, mit einem Fokus auf die Westbalkanroute, im EU-Militärkomitee erwirkt.
Mögliche europäische Lösung der Krise
Die Flüchtlings- und Migrationskrise ist eine europäische Herausforderung, die kein Mitgliedstaat alleine lösen kann. Politik und Gesellschaft müssen sich bewusst sein, dass Migration ein Teil der Globalisierung ist. Sie wird das zukünftige Welt- und Gesellschaftsbild prägen. Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich wieder ins Bewusstsein rufen, dass die Europäische Union neben einer Wirtschaftsgemeinschaft vor allem eine Wertegemeinschaft ist.
„Die eine Lösung“ für die Flüchtlings- und Migrationskrise gibt es nicht. Notwendig ist die entschlossene Implementierung einer Summe von vielen gemeinsam getragenen Einzelmaßnahmen. Diese sind:
- umfassende politische Bemühungen zur Beendigung der Kriege und Konflikte;
- Gewährleistung von Sicherheit und Stabilität in den Krisengebieten;
- Schaffung von Lebensgrundlagen zur Ermöglichung der Rückkehr;
- Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern;
- Unterstützungs- und Entwicklungs-maßnahmen;
- eine Kontrolle der EU-Außengrenzen;
- eine solidarische und funktionierende Verteilung der Migranten und Flüchtlinge innerhalb der Europäischen Union;
- gemeinsame Asylpolitik mit rascher Entscheidung zur Klärung des Asylstatus;
- die Etablierung einer gemeinsamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik.
Die erfolgreiche Umsetzung dieser Maßnahmen erfordert eine europäische Solidarität. Politik und Gesellschaft müssen den Mut haben, den Horizont vor Augen, über die Grenzen Europas hinweg zu denken und gemeinsam entschlossen zu handeln. Der Traum eines grenzenlosen Europas könnte sonst zu Ende sein.
Oberst dhmfD Mag. phil. Camillo Nemec ist der stellvertretende Leiter der EU-Abteilung der Österreichischen Militärvertretung in Brüssel.