- Veröffentlichungsdatum : 17.02.2021
- – Letztes Update : 24.02.2021
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Die Unruhen im Nordkosovo 2011 - Teil 2
Der zweite Teil der Serie zum Einsatz der aus deutschen und österreichischen Einheiten gestellten Operational Reserve Force Bataillons im zweiten Halbjahr 2011 beschreibt die Formierung und Einsatzvorbereitung sowie die Phasen der Aktivierung, Entsendung und Einsatzführung bis zum 27. November 2011. Der Einsatz im Nordkosovo fand seinen Höhepunkt mit dem Gefecht bei Zupce am 28. November 2011.
Militärstrategischer Hintergrund
Deutschland stellte bis einschließlich 2017 ein Bataillon als operative Reserve der NATO für die Balkanoperationen KFOR (Kosovo Force) und EUFOR (European Union Force) bereit. Die Operational Reserve Forces (ORF) bestanden im Jahr 2011 aus je einem Bataillon des Vereinigten Königreiches, Italiens und Deutschlands. Von diesen standen in einem sechsmonatigen Rotationszyklus jeweils zwei in der Bereitschaftsstufe „Stand by“ und eines in der Stufe „Ready“. Österreich beteiligte sich im zweiten Halbjahr 2011 mit dem achten nationalen Missionsanteil (AUTCON8/ORF), spezifisch mit einem Stabsanteil, einer Einsatzkompanie sowie Unterstützungskräften, am von der Bundeswehr geführten Operational Reserve Force Bataillon II/2011 (ORFBtl II/2011). Die österreichische Entscheidung, die rasch verfügbaren Reservekräfte gemeinsam mit der Partnernation Deutschland zu stellen, erfolgte in Einklang mit der österreichischen Militärstrategie. Die militärstrategische Absicht beinhaltet die Wahrung der österreichischen sicherheitspolitischen Interessen und die Fortführung der Beitragsleistung zum internationalen Krisenmanagement am Balkan.
Gliederung und Fähigkeiten
Die Anforderungen an das ORFBtl II/2011 verlangten einen selbstständigen Einsatzverband, der im Schwerpunkt (Schwergewicht; Anm.) eingesetzt werden kann. Er soll hochmobile und durchsetzungsstarke Aufträge erfüllen können und ein entsprechend breites Spektrum militärischer Fähigkeiten abdecken. Damit einher ging die Einnahme einer auftragsangepassten Gliederung und das Zusammenführen des Bataillons aus insgesamt 13 Dienststellen/Verbänden, davon acht aus Deutschland (DEU) und fünf aus Österreich (AUT). Das gesamte Bataillon verfügte über eine Stärke von etwa 700 Soldaten. Als Leitverband der Bundeswehr war das Raketenartilleriebataillon 132 (RakArtBtl132) aus Sondershausen in Thüringen eingeteilt. Dieses stellte mit dem Stab, der Stabskompanie sowie einer Einsatzkompanie den Großteil der deutschen Kräfte. Ergänzt wurde der nationale Anteil durch ABC-Abwehr-Soldaten, Pioniere, Feldjäger (Militärpolizei) sowie Sanitäts- und Logistikkräfte. Die österreichischen ORF-Kontingente wurden jeweils ausschließlich aus Zeit- und Berufssoldaten von Kaderpräsenzeinheiten formiert. Sie waren gegliedert in
- ein Kontingentskommando (gleichzeitig österreichischer Anteil am Bataillonsstab) als Führungselement,
- eine gehärtete Infanteriekompanie als Einsatzelement sowie
- Unterstützungselemente aus den Bereichen Militärpolizei, Pioniere, Instandsetzung und Sanität.
Im AUTCON8/ORF stellten das Jägerbataillon 25 (JgB25) aus Klagenfurt das Kontingentskommando und das Panzergrenadierbataillon 13 aus Ried im Innkreis mit der Infanteriekompanie die Masse der österreichischen Kräfte.
Einsatzvorbereitung
Auf Einladung des deutschen Leitverbandes fand im März 2011 eine erste Zusammenführung des Schlüsselpersonals am Heimatstandort des RakArtBtl132 in Thüringen statt. Unter Leitung des Kommandeurs wurde ein Führungsseminar mit den teilnehmenden Stabsabteilungsleitern und Kompanieführern (Kompaniekommandanten; Anm.) durchgeführt. Der Zweck dieser Erstabsprache war das gegenseitige Kennenlernen, die Darstellung der jeweiligen Fähigkeiten und der taktischen Einsatzgrundsätze sowie die planerische Abstimmung der weiteren Vorgehensweise, um im vorgegebenen Zeitrahmen die Entsendebereitschaft des binationalen Verbandes herzustellen. Abgeleitet von den Fähigkeitsanforderungen der NATO, wurden in der Phase der nationalen Einsatzvorbereitung (EVb) die erforderlichen Einzel- und Spezialausbildungen sowie die gefechtstechnische Ausbildung auf Ebene der Kompanie und der Züge in Verantwortung der formierungsverantwortlichen Kommanden durchgeführt und bis Ende Mai 2011 abgeschlossen. Die österreichischen Anteile wurden anschließend am Standort der Hauptkräfte im oberösterreichischen Ried im Innkreis zusammengezogen, um hier die Verlegung zur Verbandsausbildung in Deutschland vorzubereiten. Die Infanteriekompanien des kleinen Verbandes hatten in der Einsatzvorbereitung folgende Schwergewichtsziele zu erreichen:
- Schutz von Objekten und Transporten;
- Überwachen von Räumen und Bewegungslinien;
- Durchführung von Patrouillen;
- Betreiben von Kontroll- und Beobachtungspunkten;
- Absichern von Zugriffsoperationen;
- Ordnungseinsatz (Crowd and Riot Control – CRC).
Das Bataillonskommando und die Unterstützungskräfte aus Militärpolizei, Pioniere, Sanität und Instandsetzung hatten zwei wesentliche Aufgaben vorzubereiten. Einerseits war die Zusammenarbeit und Integration in das jeweilige deutsche Element andererseits die waffengattungsspezifischen Beiträge zur Einsatzführung sicherzustellen. Auf deutscher Seite lag die wesentlichste Herausforderung darin, Artilleristen und ABC-Abwehr-Soldaten für den Einsatz in Infanteriekompanien vorzubereiten.
Vorgestaffelte Erkundung
Die Erkundung im Einsatzgebiet Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo für eine etwaige Entsendung verlief in zwei Abschnitten. Zuerst erfolgten eine grundsätzliche Einweisung und Information des Führungspersonals und anschließend die spezifische Erkundung für die möglichen Einsätze in den Einsatzräumen. Mit dem Schlüsselpersonal aus dem Bataillonsstab und aus den Kompanien wurde daher eine Erkundung im Einsatzraum sowie das so genannte „Operational Rehearsal Level 1“ durchgeführt. Des Weiteren fand eine Aufmarschwegerkundung vom Kosovo nach Bosnien und Herzegowina statt. Die vor Ort eingesetzten Kräfte der EUFOR/ALTHEA (Bosnien und Herzegowina) und der KFOR (Kosovo) machten während des „Operational Rehearsal Level 1“ die Einweisungen und lieferten die notwendigen ersten Erkenntnisse zur Lage der Konfliktparteien und der eigenen Kräfte im Einsatzraum. Auf Grundlage dieser Informationen war es möglich, die richtigen Ableitungen für die detaillierte taktische und gefechtstechnische Einsatzvorbereitung zu treffen. Bei der Erkundung wurde sehr schnell deutlich, dass der militärstrategischen Absicht, die Truppenstärken im Einsatzraum zu verringern, eine Verstärkung des Reservenkonzeptes einhergehen musste.
Einsatzvorbereitung beim Gefechtsübungszentrum Heer
Höhepunkt und zugleich Abschluss der Einsatzvorbereitung des ORFBtl war im Juni 2011 die Verlegung des gesamten Verbandes an das Gefechtsübungszentrum Heer (GÜZ) in der Letzlinger Heide (etwa 40 km nördlich von Magdeburg). Unter Sicherstellung herausfordernder zeitlicher, logistischer und organisatorischer Rahmenbedingungen wurde das Bataillon verlegt und erstmalig als Volltruppe zusammengezogen. Ziel war es, aus den beiden nationalen Kontingenten einen einheitlich vorgehenden Verband zu schmieden und durch die Zertifizierung die formelle Einsatzbereitschaft als ORFBtl zu bekommen. Der gesamte Übungsdurchgang wurde einsatzorientiert und auf die konkrete Lage in den vorgesehenen Einsatzräumen abgestimmt durchgeführt. Die Führungsleistung, Kenntnisse, Fähigkeiten und das Leistungsvermögen der beiden nationalen Anteile mussten aufeinander abgestimmt werden. Die Integration des österreichischen Anteiles in das deutsche ORFBtl II/2011 wurde durch die Führungsausbildung für den Bataillonsstab, die Kompanieeinsatzübungen unter Miteinbeziehung von Verstärkungskräften und im Besonderen die abschließende mehrtägige Bataillonseinsatzübung erreicht. Der verantwortliche deutsche Divisionskommandeur erteilte schließlich die Zertifizierung „einsatzbereit“ für den binationalen Verband. Nach der Rückkehr in die Heimatgarnisonen und dem Herstellen der Alarmierungsbereitschaft befand sich das ORFBtl ab dem 1. Juli 2011 für die Dauer von sechs Monaten in der Bereitschaftsstufe „Ready“. Das heißt, dass innerhalb von sieben Tagen nach Alarmierung alle Kräfte einsatzbereit im Einsatzraum verfügbar zu sein hatten. Zu Beginn dieser Phase gab es keine Anzeichen für eine Lageverschärfung, die eine Verlegung des Verbandes auslösen hätte können.
Aktivierung und Entsendung
Die nur oberflächlich stabile Lage im Einsatzraum Kosovo verschlechterte sich Ende Juli 2011 zusehends (siehe Teil 1, TD-Heft 3/2020). Auslöser dafür waren die Bestrebungen der kosovo-albanisch dominierten Zentralregierung in Priština, ihren Einfluss auch auf die vier nördlichen, mehrheitlich serbisch besiedelten Bezirke (Nord-Mitrovica, Zvecan, Leposavic, Zubin Potok) auszuweiten. Absicht der Regierung war es, den Anspruch auf die gesamtstaatliche Autorität ebenfalls im serbisch dominierten Landesteil nördlich des Flusses Ibar durchzusetzen und gleichzeitig den serbischen Einfluss in diesem Gebiet zurückzudrängen. Die serbische Mehrheitsbevölkerung im Nordkosovo reagierte auf dieses Vorgehen mit Straßensperren an den Hauptbewegungslinien sowie Demonstrationen und gewalttätigen Angriffen auf Polizeieinheiten der Zentralregierung. Am 26. Juli 2011 wurden dabei durch Schusswaffen ein Polizist getötet und mehrere verletzt. Der Grenzübergang „Gate 1“ wurde am 27. Juli 2011 in Brand gesteckt. KFOR war trotz des Einsatzes aller im Einsatzraum verfügbaren Kräfte nicht in der Lage, die Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit und eines sicheren Umfeldes zu gewährleisten. Kräfte der KFOR sowie der EULEX (Rechtsstaatkommission der EU) und Kosovo Police wurden damit zusehends zum Ziel gewalttätiger Auseinandersetzungen. Bei den Grenzübergängen „Gate 1“ und „DOG 31“ waren KFOR-Kräfte temporär eingekesselt. Nach dem Scheitern der Verhandlungsversuche des Kommandanten der KFOR (COM KFOR) zur friedlichen Lösung des Konfliktes und zur Wiederherstellung seiner Handlungsfreiheit für die weitere Einsatzführung beantragte er beim NATO Joint Forces Command in Neapel die Alarmierung des ORFBtl II/2011 für den Kosovo. Dieses wurde umgehend in erhöhte Bereitschaft versetzt und mit Wirkung vom 2. August aktiviert, um anschließend KFOR unterstellt zu werden. Aufgrund des erhöhten Bereitschaftsgrades war es möglich, das Vorkommando binnen 36 Stunden nach Aktivierung des Verbandes in das Einsatzgebiet zu verlegen. Die Hauptkräfte folgten im Halbtagestakt mit Flügen der deutschen und österreichischen Luftstreitkräfte, so dass das Bataillon fünf Tage nach Aktivierung vollständig in das Einsatzgebiet verlegt war und das eingelagerte Gerät wie Fahrzeuge, Waffen, Munition sowie zusätzliche Ausrüstung übernehmen konnte.
Einsatzbeginn
Parallel zur Aufnahme und zum Herstellen der vollen Einsatzbereitschaft erfolgte die Auftragserteilung durch den COM KFOR an den Kommandanten des ORFBtl II/2011 sowie die Befehlsausgabe für die Einsatzführung des Bataillons. Die erste Einsatzbereitschaft wurde termingerecht nach vier Tagen erreicht, die volle drei Tage später. Da sich der geplante Operationsraum im Nordosten des Kosovo befand, wurde entschieden, alle Einsatzkräfte in das französische Feldlager Novo Selo zu verlegen und die logistischen Kräfte im Feldlager Prizren zu belassen. Dies führte zu extrem überdehnten Versorgungswegen, die bei den bestehenden Straßenverhältnissen LKW-Fahrzeiten von fünf bis sechs Stunden bedeuteten. Diese logistische Überdehnung bestand während des gesamten Einsatzes des Verbandes. Zur Aufrechterhaltung der Versorgung der Einsatzkräfte wurde mit einem 24/7-Logistikkonzept versucht, die Einsatzbereitschaft ununterbrochen zu gewährleisten. Dazu wurde auch eine vorgeschobene logistische Basis eingerichtet. Eine erste große Herausforderung war die im Camp Novo Selo fehlende Infrastruktur für die Einsatzkräfte des Bataillons. Deutsche Logistikkräfte konnten innerhalb des Camps schließlich ein Zeltlager zur Unterbringung von zwei Einsatzkompanien errichten. Dieses Lager wurde für ein halbes Jahr die „Heimat“ des Bataillons. Der COM KFOR hatte entschieden, dass das ORFBtl II/2011 die taktische Reserve der KFOR ablösen sollte, um nach dessen Herauslösen dieses Reservebataillon wieder als schnelle Eingreiftruppe verfügbar zu halten. Der Verantwortungsbereich (Area of Responsibility – AOR) umfasste den Raum rund um die Stadt Zubin Potok einschließlich der Hauptbewegungslinie „HEN“ und des Grenzüberganges „DOG 31“. Die AOR hatte damit eine Ausdehnung von ca. 25 x 20 km. Die stationär zur Sicherung des „DOG 31“ eingesetzte französische Einsatzkompanie wurde für die weitere Einsatzführung dem ORFBtl auf Zusammenarbeit angewiesen. Die Übernahme der Raumverantwortung dauerte rund 48 Stunden.
Einsatzführung zu Beginn
Das ORFBtl II/2011 erhielt den Hauptauftrag, den für KFOR notwendigen „Freedom of Movement“ wiederherzustellen und die EULEX in ihren polizeilichen Aufgaben zu unterstützen. Die AOR wurde dazu durch den Einsatz von Patrouillen und Checkpoints durchgehend überwacht, und es wurden ständig starke Reserven für die weitere Einsatzführung bereitgehalten. Neben der Auftragserfüllung zur Überwachung des Verantwortungsbereiches hatte am Beginn der Einsatzführung das Gewinnen der Raumkenntnis absolute Priorität. Dies umfasste die Erkundung der Bewegungslinien hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, freien Befahrbarkeit, vorbereiteter Sperrmaßnahmen und Umfahrungsmöglichkeiten. Außerdem wurden Beobachtungsstellen, Kontrollpunkte und der genaue Grenzverlauf erkundet. Durch diese Maßnahmen und das zusätzliche Studium von Ortsprofilen, Verwaltungsstrukturen und der üblichen Verhaltensweisen der Bevölkerung im Verantwortungsbereich wurden in dieser Phase wesentliche Voraussetzungen für die weitere Einsatzführung geschaffen. Trotz bestehender Straßensperren, die aus Betonelementen und großen Baumstämmen bestanden, war es in den ersten Tagen des Einsatzes noch möglich gewesen, über kleinere Passwege den gesamten Einsatzraum patrouillierend zu befahren und Gesprächsaufklärung durchzuführen. Die extrem ablehnende Stimmung in der Bevölkerung bekamen die Einsatzkräfte jedoch mit voller Wucht zu spüren. An „jeder“ Straßenecke waren Anti-KFOR-Plakate angebracht. Mit zunehmender Patrouillentätigkeit nahmen die Straßensperren und deren Überwachung durch die Gegenseite signifikant zu. Nach wenigen Wochen gab es nur noch zwei Wege, um in den Einsatzraum zu gelangen; einer davon war dazu nur mit leichten Fahrzeugen befahrbar. Der COM KFOR hatte entschieden, als Reaktion auf die sich immer weiter verschlechternde Bewegungssituation mit verstärkten Kfz-Kontrollen zu reagieren. So wurden ab der dritten Einsatzwoche innerhalb des Einsatzraumes verstärkt Vehicle Check Points in Zusammenarbeit mit der EULEX errichtet. Deren Dauer erstreckte sich jeweils über wenige Stunden, da die lokale Bevölkerung rasch Ausweichwege nutzte, um sich den Kontrollen zu entziehen. Dennoch gelang es in dieser Zeit, einige gesuchte Kriminelle festzusetzen und an die Behörden zu übergeben.
Die Abstufung der Verantwortlichkeiten zur Aufrechterhaltung eines stabilen und sicheren Umfeldes im Einsatzraum wurde festgelegt. Die Erstverantwortlichkeit lag in den Händen der Kosovo Police (KP), die Zweitverantwortlichkeit bei der EU-Rechtstaatlichkeitsmission im Kosovo – EULEX, und KFOR war die Rolle als „Third Responder“ zugeordnet. Im Verantwortungsbereich des Bataillons befand sich lediglich eine durch kosovo-serbische Polizisten besetzte KP-Station. Die Polizisten befanden sich de facto „zwischen den Fronten“, so dass faktisch einzig EULEX versuchte, die rechtsstaatliche Ordnung der Zentralregierung zu vollziehen. In den kommenden Wochen wurden in Zusammenarbeit und unter Leitung der EULEX mehrere Zugriffsoperationen gegen Angehörige der Organisierten Kriminalität durchgeführt, bei denen die Kräfte des ORFBtl II/2011 stets die äußere Absicherung übernahmen und im besten Sinne des Wortes den EULEX-Kräften den Rücken freihielten. Eine Aufgabe für den Kommandeur des ORFBtl II/2011 war es, trotz der sich verschlechternden Gesamtlage, als Unterverhandlungsführer der KFOR mit den im Operationsraum ansässigen lokalen Politikern in Verbindung zu bleiben und auf eine Öffnung aller Straßensperren einzuwirken. Als erster Ansprechpartner stellte sich der Bürgermeister der Gemeinde Zubin Potok heraus. Gelegentlich war auch das Oberhaupt der serbischen Municipalities (Gemeinde; Anm.) im Kosovo an den Gesprächen beteiligt. Die Verhandlungen fanden in einer der Situation entsprechenden Angespanntheit statt. Die lokalen Politiker forderten vollständige Autonomie des Kosovo unter Führung der serbischen Regierung in Belgrad, da sie die Unabhängigkeit des Kosovo als völkerrechtswidrig erachteten. Demgegenüber stand die Forderung der KFOR nach vollständiger Bewegungsfreiheit für alle staatlichen und internationalen Institutionen innerhalb der Grenzen des Kosovo.
Mit Übernahme der Operationsverantwortung des ORFBtl II/2011 wurde die an „DOG 31“ eingesetzte französische Einsatzkompanie dem ORFBtl II/2011 temporär unterstellt. Diese Kompanie hatte in den vergangenen Jahren auf dem Grenzübergang einen Außenposten errichtet und überwachte mit der Kosovo Police und der EULEX den Grenzverkehr. Der Zugang zu diesem Grenzposten war aufgrund der gebirgigen Umgebung nur über eine Straße möglich, wenngleich es viele Trampelpfade gab, um diesen Grenzübergang zu Fuß oder zu Pferd zu umgehen. COM KFOR hatte entschieden, mit Aufkommen der Straßensperren im Nordkosovo diese Kräfte nur noch per Hubschrauber zu versorgen und auch den Truppenwechsel über die Luft durchzuführen. Seine Absicht war es, sich nicht auf das Wohlwollen von Demonstranten verlassen zu müssen und damit erpressbar zu werden. In einem rotierenden System wurden so fast täglich Truppen ausgewechselt und die gesamte Versorgung mit Material, Betriebsstoffen und Verpflegung mit KFOR-Hubschraubern sichergestellt. Der Planungs- und Koordinierungsaufwand in dieser Phase waren allerdings immens. Während des Kontingentwechsels bei den KFOR-Truppenstellern wurde das ORFBtl II/2011 neben der Einsatzführung in der eigenen AOR mit zusätzlichen Schutzaufgaben außerhalb des eigenen Verantwortungsbereiches beauftragt. Diese Aufgabe erstreckte sich über mehrere Wochen. Die „Austerlitz-Brücke“ – Mitrovicas Hauptbrücke über den Fluss Ibar – wurde im September 2011 von kosovo-serbischen Aktivisten durch Aufschüttung von Baumaterialien gänzlich unpassierbar gemacht. Der Nordteil der geteilten Stadt war somit nur noch über kleinere, wenig leistungsfähige Übergänge erreichbar. An der Nordseite der Brücke wurden durchgehend zahlreiche „Brückenwächter“ eingesetzt, um Räumversuche an den Barrikaden durch die Mobilmachung der rasch verfügbaren Demonstranten zu verhindern. Aus dem Südteil der Stadt kam es zu Provokationen gegen die Brückenwächter am nördlichen Flussufer. Um Zusammenstöße auf der Brücke zu verhindern und das Lagebild in der Stadt zu verdichten, setzte das Bataillon kompaniestarke Kräfte zum Schutz der Brücke sowie zur durchgehenden Patrouillentätigkeit ein. Als weiterer Auftrag wurde dem ORF-Bataillon der Schutz des Klosters Devic im Drenica-Tal übertragen. Dieses serbisch-orthodoxe Nonnenkloster wurde im Zuge der Unruhen im März 2004 von Kosovo-Albanern angegriffen und niedergebrannt. Die Nonnen konnten in letzter Minute durch KFOR-Soldaten evakuiert werden. Aufgrund dieser Vorgeschichte wurde das wiederaufgebaute Kloster unter besonderen Schutz der KFOR gestellt.
Neue Straßensperren
Die zunehmenden Checkpoints, die festgefahrenen Verhandlungen mit den lokalen Autoritäten und eine größer werdende Frustration auf kosovo-serbischer Seite führten dazu, dass Mitte September 2011 alle Bewegungslinien im Verantwortungsbereich des ORFBtl II/2011 blockiert wurden. Alte LKW und Busse sowie Unmengen an großen Baumstämmen wurden zu massiven Straßensperren umgewandelt und Tag und Nacht von Demonstranten überwacht, wobei auch viele Frauen und deren Kinder mitunter auf bzw. in den Straßensperren positioniert waren. Ebenso dramatisch veränderte sich die Lage am „DOG 31“. Die Hauptbewegungslinie „HEN“ führte von Mitrovica durch das obere Ibar-Tal zur Grenze. Nun wurden sowohl die auf serbischer Seite als auch aus Richtung Zubin Potok kommende Straße mit riesigen Erdwällen verbarrikadiert. Die auf dem Grenzübergang eingesetzten Kräfte waren eingeschlossen, Bewegung von und zum Grenzposten war nur noch aus der Luft oder zu Fuß möglich. Diese Lageverschärfung hatte zur Folge, dass der COM KFOR entschied, mit einem ersten Ultimatum die kosovo-serbische Seite aufzufordern, die Straßensperren abzubauen. Im Falle der Nichtbefolgung wäre mit dem Einsatz militärischer Gewalt zu deren Beseitigung zu rechnen. Der politische Druck sowohl vonseiten der NATO und der EU als auch der angrenzenden Länder stieg. Gleichzeitig wurden die Planungen für eine militärische Operation zur Öffnung der Straßensperren initiiert. In Vorbereitung auf eine mögliche gewaltsame Öffnung der Straßensperren entlang der Main Supply Route (MSR) „HEN“ waren eine vorgeschobene Operationszentrale und ein Bereitstellungsraum notwendig geworden. Die Distanz von Camp Novo Selo mit über 60 Minuten Anfahrtzeit in den Raum Zubin Potok war zu groß. Eine detaillierte Erkundung ergab einen geeigneten Raum oberhalb der Ortschaft Cabra. Auf diesem Platz wurde fortan der vorgeschobene Gefechtsstand in einem neuen Bereitstellungsraum errichtet. In der weiteren Einsatzführung wurde Cabra Hill mit deutschen Logistikkräften zur vorgeschobenen Einsatz- und Versorgungsbasis ausgebaut und bataillonsintern als „Field Camp Cabra Hill“ bezeichnet.
Offensive - Erste Räumung von Straßensperren
Das Ultimatum des COM KFOR zur Öffnung der Straßensperren verstrich ohne Reaktion. Zeitgleich waren die Operationsplanungen zur gewaltsamen Öffnung der Straßensperren durch das ORFBtl II/2011 abgeschlossen. Am 20. Oktober 2011 begann kurz nach Mitternacht die Operation „Breaking Dawn“: In einem konzertierten Ansatz wurde an zunächst fünf unterschiedlichen Punkten gegen Straßensperren zeitgleich vorgegangen. Da in bewohnten Gebieten ein verdeckter Aufmarsch mit schwerem Räumgerät (Pionierpanzer „Dachs“) so gut wie unmöglich war, formierte sich der Widerstand an den neuralgischen Punkten rasch. Mehrere hundert Demonstranten standen dem Bataillon gegenüber, so dass es in der Folge zum CRC-Einsatz im Bataillonsrahmen kam. Der Einsatz von Schild und Schlagstock, begleitet von Reizgas und Impulspatronen, führte dazu, dass sieben von neun Straßensperren geöffnet und gesichert werden konnten. Die beiden Hauptstraßensperren entlang des Ibar-Tales waren weiterhin gesperrt, denn die Gegenseite hatte dort Frauen und Kinder als „menschliche Schutzschilde“ zwischen sich und dem Bataillon positioniert und somit den Einsatz verhindert. Ziel einer weiteren Operation war die Öffnung der Straße bei „DOG 31“, die auf serbischer Seite durch einen massiven Erdwall unpassierbar gemacht worden war. Hierzu wurde unter anderem ein Bagger mit einem Transporthubschrauber an den Grenzübergang geflogen. Mithilfe des Baggers gelang es, einen Fahrweg durch den insgesamt über 50 Meter dicken Erdwall zu graben. Auf kosovo-serbischer Seite stellte sich das Bild anders dar. Nachdem bis auf die Grenze zu Serbien der Grenzübergang geräumt war, wurde noch in den Morgenstunden des 22. Oktobers, nunmehr auf serbischer Seite, ein neuerlicher Erdwall aufgeschüttet. Der Grenzübergang war somit de facto von kosovarischer Seite wieder befahrbar, jedoch konnte aufgrund dieser neuen Blockade niemand aus dem Kosovo ausreisen. Das ORFBtl II/2011 sicherte die „Raumgewinne“ mit Kfz-Kontrollpunkten, um den nicht genehmigten „kleinen Grenzverkehr“ auf den Umgehungswegen zu überwachen. In rückblickender Bewertung kann von einem Teilerfolg gesprochen werden, denn die beiden entscheidenden Straßensperren konnten nicht nachhaltig geöffnet werden und wurden in der Folge noch stärker ausgebaut. Nachdem mit der Operation „Breaking Dawn“ ein Teilerfolg erreicht werden konnte, begannen nach einer kurzen Konsolidierungsphase die Planungen zu einer weiteren Aktion mit dem Zweck, die vollständige Öffnung aller Straßensperren nun nachhaltig zu erreichen. Die große Herausforderung bestand darin, die weiteren Operationsplanungen im offenen Gelände zu verschleiern und so die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Einsatzführung zu schaffen. Dazu wurden kurzfristig zusätzliche Pionierpanzer und Wasserwerfer aus Deutschland herangeführt. Neben diesen materiellen Vorbereitungen wurde die Aufklärungstätigkeit mit ORF-bataillonseigenen und KFOR-Mitteln massiv verstärkt und mehrere taktische Einsatzvarianten ausgearbeitet. Am späten Nachmittag des 27. November 2011 erfolgte das finale Briefing beim COM KFOR, das mit der Freigabe des Operationsbeginnes für den nächsten Morgen endete.
Offensive Einsatzführung und Gefecht
Am 28. November 2011 fand erneut der Einsatz des ORFBtl II/2011 statt. Die verbliebenen Roadblocks bei Zupce wurden im Gefecht gegen massiven Widerstand der Gegenseite geräumt. Die gewaltsame und nachhaltige Öffnung des Roadblocks erzwang schließlich die Aufgabe der serbischen Verhandlungsposition und ermöglichte es KFOR, wieder die Oberhand zu gewinnen. Der genaue Ablauf dieses Gefechtes wird im dritten Teil dieser Artikelserie beschrieben.
Oberst i.G. Klaus Glaab; Oberstleutnant Rene Drewelies; deutsches Bundesministerium der Verteidigung; Oberstleutnant Franz J. Pirker; Kommando 7. Jägerbrigade; Major dG Mag.(FH) Matthias Resch; Kommando 3. Jägerbrigade (Brigade Schnelle Kräfte).