• Veröffentlichungsdatum : 18.07.2022
  • – Letztes Update : 03.08.2022

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Fähigkeitenentwicklung in der ABC-Abwehr - Fortsetzung

Friedrich Aflenzer, Johann Fischer

Atomare, biologische und chemische (ABC-)Bedrohungen sind Druckmittel, die politische und militärische Entscheidungen beeinflussen. Eine nachrichtendienstliche Aufklärung und ein Netz an Sensoren sind notwendig, um Drohgebärden einschätzen zu können. Vor dieser Herausforderung stehen die Streitkräfte der Europäischen Union.

Zu Teil 1

Die Ereignisse im Sudan, in Syrien oder auch in der englischen Stadt Salisbury, die Kernkraftwerksunfälle in Tschernobyl und Fukushima sowie der Chemieunfall in Seveso haben die Defizite bei der Erkennung, Identifizierung und Frühwarnung von ABC-Gefahren deutlich gemacht. Dabei ist nicht nur die mutwillige (terroristische) Anwendung z. B. als Dirty Bomb zu beurteilen, sondern auch die Freisetzung von ABC-Substanzen nach einem Industrieunfall oder durch Naturereignisse. ABC-Bedrohungen können für Streitkräfte der EU sowohl in Einsatzgebieten außerhalb der Union als auch auf dem Gebiet der EU-Staaten eine massive Gefahr darstellen. Daher unterstützt die EU-Kommission Initiativen, die zur Entwicklung modularer und einsatztauglicher Fähigkeiten zur Erkennung von ABC-Bedrohungen und zur Frühwarnung beitragen, und zwar durch die Vernetzung von Sensoren, die es ermöglichen, ein aktuelles und zuverlässiges Lagebild von ABC-Gefahren zu erstellen. Das ambitionierte Endziel dieser Intitiativen ist es, eine vernetzte, europaweite ABC-Überwachungsfähigkeit rund um die Uhr zu schaffen.

Bedrohungsanalyse

Chemische, biologische, radiologische und nukleare Bedrohungen und Gefahren stellen eine ernste Gefahr für Lebewesen dar. Chemische und biologische Prozesse, wie der Zerfall radioaktiver Elemente, einschließlich Kernspaltung und -fusion, die mit der Emission ionisierender Strahlung einhergehen, sind Teil natürlicher Vorgänge. Erst als diese erkannt, genutzt und neue Technologie- und Anwendungsbereiche gefunden wurden, in denen ABC-Stoffe verwendet, verarbeitet oder hergestellt werden können, stieg das Risiko des Missbrauches, einschließlich der Möglichkeit eines Unfalles mit Freisetzung von ABC-Gefahrstoffen. Das Aufkommen der chemischen Industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichte den massiven Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg und in weiterer Folge Kernspaltungstechnologien und auch die Kernkraftwerksunfälle, wie in Tschernobyl 1986 oder in Fukushima 2013. Der Versuch, solche Gefahren durch Vorschriften und Abkommen zu kontrollieren, widerspricht aber dem Drang der Menschheit, neue Technologien und Einsatzmöglichkeiten zu entwickeln, die wiederum neue Risiken mit sich bringen.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1990 änderte sich das Bedrohungsszenario. Die Verteidigungsausgaben wurden reduziert, die Rüstungskapazitäten kamen teilweise unter die Kontrolle neuer Staaten. Die USA wurden sicherheitspolitisch zum einzigen globalen Akteur. Doch Russland begann sich wieder zu etablieren, und auch Europa zeigte Anzeichen einer Einigung durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Gleichzeitig tauchte ein neues Schreckgespenst auf: Der internationale, transnationale und systemische Terrorismus. 

Die militärischen ABC-Abwehrkräfte erwiesen sich als der Hauptpfeiler der verfügbaren Interventionskräfte der Staaten im Angesicht massiver ABC-Bedrohungen. Das Zusammenspiel zwischen militärischen und zivilen Einsatzkräften ist der Schlüssel zur erfolgreichen Bewältigung terroristischer Bedrohungen und großflächiger Zwischenfälle, bei denen ABC-Gefahrstoffe freigesetzt werden. 

Technologischer Demonstrator 

Die oben beschriebenen Herausforderungen und Analysen haben dazu geführt, dass Österreich, Frankreich, Kroatien, Ungarn und Slowenien im Rahmen der EU-Verteidigungsinitiative für die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation –  PESCO) das Projekt CBRN SaaS einreichten. In der ersten Phase des Projektes soll ein Industriekonsortium einen Technologischen Demonstrator entwickeln. Unter dem Vorsitz Österreichs wurden die Fähigkeitsanforderungen/Capability Requirements beschrieben. Der Technologische Demonstrator soll durch die Zusammenführung bereits existierender Fähigkeiten eine neue Fähigkeit generieren. Das Konsortium darf daher im Demonstrator ausschließlich bereits existierende – commercial off-the-shelf/military off-the-shelf –
Sub-Systeme verwenden. 

Die Entwicklung dieser neuartigen ABC-Aufklärungs-/Überwachungsfähigkeit wird international genau beobachtet und mehrere Nationen und Fachzeitschriften haben bei der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) um Details zum Projekt angefragt. So wurde die EDA auch zur Lenkungsausschuss-Sitzung des Framework Nations Concept/Cluster CBRN Protection eingeladen, um CBRN SaaS durch eine Präsentation darzustellen und zu erläutern. Im Anschluss werden das Concept of Operations und die drei wesentlichen Kernelemente des CBRN SaaS Technological Demonstrators, wie in den Fähigkeitsanforderungen beschrieben, dargestellt. 

Concept of Operations

Eine durch ABC-Gefahren (Massenvernichtungswaffen und/oder Toxic Industrial Materials) verursachte potenzielle Kontamination erfordert eine Erkundung/Aufklärung vor Ort, um die Art, das Ausmaß und den Grad der Kontamination zu bestimmen. Sind aus unterschiedlichen Gründen, wie Feind- und/oder Minenbedrohung, Freisetzung von gasförmigen Substanzen, bei denen nicht gesichert ist, dass die ABC-Schutzmaske ausreicht, hoher radioaktiver Strahlung etc. der Einsatz von bemannten Systemen unmöglich oder entsprechen nicht dem Grundsatz der Verlustminimierung, müssen unbemannte Systeme diese Aufgabe übernehmen. Der Technologische Demonstrator zielt daher auf den Einsatz unbemannter Boden- und Luftsysteme, die als Träger für unterschiedliche Sensoren dienen, ab. Er besteht aus drei funktionalen Elementen: 

  • CBRN SaaS-Datenfusionszelle; 
  • CBRN SaaS-Kontrollelement; 
  • unbemannte CBRN SaaS-Plattformen (Unmanned Ground Vehicle – UGV/Unmanned Arial Vehicle – UAV). 

Außerhalb des kontaminierten Gebietes wird eine CBRN SaaS-Datenfusionszelle errichtet. Ein CBRN-SaaS-Kontrollelement wird zwischen die vermutete Kontaminationsgrenze und die CBRN-SaaS-Datenfusionszelle verlegt. Dieses mobile CBRN-SaaS-Kontrollelement setzt die unbemannten CBRN-SaaS-Plattformen in dem potenziell kontaminierten Gebiet ein und steuert die unbemannten Systeme aus der Ferne. 

Die unbemannten Plattformen sammeln mit den darauf befindlichen Sensoren die entsprechenden Daten und übermitteln diese laufend via dem Kontrollelement an die Datenfusionszelle. Dort werden die empfangenen Daten verarbeitet und analysiert sowie ein aktuelles ABC-Lagebild generiert, das danach interpretiert und an ein übergeordnetes Kommando weitergeleitet wird. 

Geforderte Ergebnisse

Zur Weiterentwicklung des Gesamtsystems CBRN SaaS haben die teilnehmenden Mitgliedsstaaten festgelegt, dass der Technologische Demonstrator nachfolgende Erkenntnisse erbringen muss:

  • die Konnektivität zwischen den auf taktischer Ebene eingesetzten Sensoren und einem Informationssystem, das die Ergebnisse visualisiert;
  • dass zumindest eine Plattform mit allen Sensoren und Probeabnahmegeräten für die Detektion/Identifizierung chemischer, biologischer und radiologischer Stoffe ausgestattet werden kann; 
  • die Konnektivität zwischen den unbemannten Systemen und einer stationären Datenfusionszelle via einem Kontrollelement;
  • mögliche Unzulänglichkeiten der implementierten Lösungen und Vorschläge für Verbesserungen;
  • die Funktionalitäten sowohl in ruraler als auch in urbaner Umgebung;
  • die Integration von aktiven und passiven Sensoren;
  • die Verwendung von handelsüblichen Standardkomponenten;
  • die Integration eines aktuellen ABC-Lagebildes in ein operatives Lagebild;
  • die Fähigkeit, Geräte verschiedener Hersteller als Modul zu integrieren; 
  • die Fähigkeit zum Lufttransport und die Dokumentation der Maßnahmen, um diesen sicherzustellen. 

CBRN SaaS-Datenfusionszelle

Die Hauptaufgabe der verlegbaren Datenfusionszelle ist die Erstellung eines aktuellen ABC-Lagebildes durch die Verwendung von Echtzeitdaten unbemannter Luft- und Bodensysteme zur Ergänzung bestehender operativer Lagebilder. Das aktuelle ABC-Lagebild soll über Schnittstellen an operative Lagebilder übermittelt und exportiert werden. Die CBRN SaaS-Datenfusionszelle ist in der Lage, ein aktuelles ABC-Lagebild zur Unterstützung des verantwortlichen militärischen Kommandanten oder der zivilen Behörden zu erstellen. Die Datenfusionszelle soll folgende Anforderungen erfüllen: 

  • Umwandlung aller Daten in ein ABC-Lagebild für den militärischen/zivilen Kommandanten/Leiter gemäß der NATO STANAG 2103 (ATP-45) und NATO STANAG 2497 (AEP-45);
  • Vorsehen einer Schnittstelle für die Integration des ABC-Lagebildes in ein operatives Lagebild;
  • Bereitstellung einer Schnittstelle für den Export von Standort- und Statusdaten der unbemannten Luft-Bodensysteme und des Kontrollelementes zur Integration in ein Friendly Force Tracking System;
  • Sicherstellung der Kommunikation zwischen dem Kontrollelement und der Datenfusionszelle mit Text, Sprache, Bild und Video. 

CBRN SaaS-Kontrollelement

Das Kontrollelement ist ein mobiles System zur Fernsteuerung der unbemannten Luft/Boden-Plattformen. Es dient vorrangig zur Übermittlung aller gesammelten Rohdaten an die Datenfusionszelle über eine Entfernung von bis zu 50 km. Das Kontrollelement wird nahe an die Kontaminationsgrenze herangebracht, verbleibt aber in der kontaminationsfreien Zone und steuert von dort die unbemannten Systeme. Das Kontrollelement soll folgende Anforderungen erfüllen: 

  • mobil/verlegbar;
  • drahtlose Steuerung der Luft/Boden-Plattformen;
  • Lieferung lokaler Wetterdaten;
  • Übermittlung von Sensor-Rohdaten einschließlich Bildern und Echtzeit-Videos an die Datenfusionszelle.

Unbemannte Luftsysteme

Die unbemannten Luftsysteme sind für die Durchführung von CBRN SaaS-Aufgaben vorgesehen. Betrieben werden die unbemannten Luftsysteme von einer Kontrollstation in einem CBRN-SaaS-Kontrollelement durch eine vollständig drahtlose Fernsteuerung aller Systemfunktionen. Die angebrachten Sensoren führen die Echtzeitübertragung aller gesammelten Sensordaten, einschließlich der eigenen Standortdaten (Position und Höhe über dem Boden), an ein CBRN-SaaS-Kontrollelement durch. Die Ausführung von chemischen, biologischen und radiologischen bzw. anderen CBRN SaaS-Aufgaben aus der Luft, dient als Unterstützung des militärischen Kommandanten oder der zivilen Behörden bei einer ABC-Bedrohung. Unbemannte Luftsysteme sollen folgende Anforderungen erfüllen: 

  • modulare Systeme (plug & play);
  • von jedem Punkt des Einsatzgebietes einsetzbar; 
  • Rückkehr zum vorgesehenen Punkt nach Verlust der Kommunikation mit dem Bediener;
  • Durchführen von Messungen während des Fluges;
  • gleichzeitiges oder modulares Erkennen und Identifizieren chemischer, biologischer und radiologischer Stoffe und von Aerosolen;
  • Durchführung von Luftprobenahmen;
  • Landung mit einem System im kontaminierten Gebiet, um flüssige chemische Substanzen aufzuspüren sowie zu identifizieren und um Proben zu nehmen.

Unbemanntes Bodensystem

Das unbemannte Bodensystem ist für die Durchführung von CBRN SaaS-Aufgaben vorgesehen. Betrieben wird das unbemannte Bodensystem von einer Kontrollstation in einem CBRN-SaaS-Kontrollelement durch eine vollständig drahtlose Fernsteuerung aller Systemfunktionen. Die angebrachten Sensoren führen die Echtzeitübertragung aller gesammelten Sensordaten, einschließlich der eigenen Standortdaten und Wetterbedingungen, an ein CBRN-SaaS-Kontrollelement durch. Unbemannte Bodensysteme müssen folgende Anforderungen erfüllen: 

  • Hybridfahrzeug (Diesel und Elektro) auf Rädern oder Ketten;
  • Betrieb von mindestens sechs Stunden lang ohne Auftanken;
  • Geschwindigkeiten von mindestens 15 km/h auf offener Straße und in ebenem Gelände;
  • ausgestattet mit Kameras, einschließlich Infrarot- und Wärmebildkameras, zur Steuerung und um Bilder sowie Videos von Interesse in Echtzeit aufzuzeichnen und zu übertragen;
  • gleichzeitiges Erkennen und Identifizieren chemischer, biologischer und radiologischer Stoffe und von Aerosolen;
  • Mitführen eines Stand-Off-Detektionssytems für chemische Stoffe, das Chemikalien in einer Mindestentfernung von zwei Kilometern detektiert;
  • Markieren des kontaminierten Bereiches gem. NATO STANAG 2521 (ATP-3.8.1 Vol I);
  • einsetzbar in einem Bereich mit sehr hoher radioaktiver Strahlung (mindestens 4 Gy/h – Gray pro Stunde);
  • ausgestattet mit verschiedenen Arten von Standardschnittstellen für den Datenaustausch. 

Mögliche Einsatzszenarien

Bereits zu Beginn der Projektbearbeitung stellten sich die Fähigkeitsplaner die Frage, wann, wie und warum CBRN SaaS zum Einsatz kommen könnte. Das Warum war schnell beantwortet: Immer dann, wenn ein Einsatz für Menschen zu gefährlich oder unmöglich ist, sollten unbemannte Systeme zum Einsatz kommen. Ein Unternehmen des CBRN SaaS-Konsortiums hat dies sogar als Leitspruch: „Dont’t send a man to do a machine’s job“. Um das Wie und Wann zu beantworten, zogen die teilnehmenden Mitgliedsstaaten die ABC-Bedrohungsanalysen und die NATO- und EU-Pläne zur Fähigkeitsentwicklung sowie die Lessons Learned aus Einsätzen heran. Im Wesentlichen gibt es drei mögliche Grobszenarien für den Einsatz von CBRN SaaS-Systemen: 

  • Militärischer Einsatz im Rahmen einer multinationalen Operation, z. B. mit einer EU-Battlegroup;
  • Katastropheneinsatz, bei dem ABC-Stoffe freigesetzt wurden, wie bei den Unfällen von Tschernobyl, Fukushima oder Seveso;
  • Unterstützung ziviler Behörden, z. B. bei einer Veranstaltung mit großer Öffentlichkeitswirkung und potenzieller (terroristischer) ABC-Bedrohung, wie hochrangige politische Treffen, Papstbesuche oder Sportbewerbe.

Zusammenfassung und Ausblick 

Der Technologische Demonstrator generiert durch das Zusammenführen bereits existierender Fähigkeiten eine neue. Die Initiative hat international bereits für Aufsehen gesorgt, weshalb das Projekt aufmerksam beobachtet wird. Mehrere Nationen, darunter z. B. auch die USA, haben ihr Interesse an den Ergebnissen des Projektes bekundet. Mit dem Technologischen Demonstrator werden die Voraussetzungen geschaffen, eine Fähigkeitenlücke in der Europäischen Union zu schließen. 
Das Industriekonsortium wird im dritten Quartal 2023 den Technologischen Demonstrator fertiggestellt haben und diesen danach den teilnehmenden Mitgliedsstaaten für Feldtest zur Verfügung stellen. Diese Feldtests werden auf militärischen Übungsplätzen der vier teilnehmenden Mitgliedsstaaten Ende 2023 und zu Beginn 2024 erfolgen und prüfen, ob und in welcher Weise die Fähigkeitenanforderungen/Capability Requirements erfüllt werden. Nach der Erstellung der Testberichte und des Endberichtes bis Mitte 2024 kann unmittelbar die Phase 2 anschließen und CBRN SaaS zur vollen Einsatzbereitschaft weiterentwickelt werden.

Mag. Johann Fischer; Head of Unit Land and Logistics bei der Europäischen Verteidigungsagentur.

Oberst Friedrich Aflenzer, MA MSc; Project Officer CBRN bei der Europäischen Verteidigungsagentur.

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