- Veröffentlichungsdatum : 31.08.2020
- – Letztes Update : 21.12.2020
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Kampf unter Tage
Die zunehmende Urbanisierung nimmt Lebensraum in Anspruch - nicht nur auf, sondern auch unter der Erdoberfläche. Bauwerke unter der Erdoberfläche werden für Verkehr, Versorgungs- und Entsorgungssysteme und zur Speicherung von Energierohstoffen sowie für die Lagerung von Gütern und Abfallstoffen genutzt. Dieser Raum birgt besondere Gefahren und stellt die Streitkräfte vor neue Herausforderungen, da dieser von terroristisch agierenden Gegnern benutzt werden kann. Als Reaktion darauf bildete das Österreichische Bundesheer die Kampfgruppe NIKE.
Es herrscht Dunkelheit, entstandener Rauch zieht entweder gar nicht oder nur sehr langsam ab. Giftige Gase könnten innerhalb weniger Augenblicke jegliches Leben auslöschen. Alle Unterstützungsmöglichkeiten wie Feuerunterstützung aus der Luft, indirektes Feuer oder gepanzerte Kräfte sind wirkungslos. Die Luft in den Pressluftgeräten wird so schnell knapp, dass die Feuerwehr und ABC-Abwehrtruppe mit dem Befüllen der Sauerstoffflaschen kaum mehr nachkommen. Die Funkverbindungen funktionieren nur schlecht, die Führung von Truppen jedweder Art könnte zur Unmöglichkeit werden. Neben allen einsatztaktischen und gefechtstechnischen Herausforderungen für die eingesetzten Kräfte kommt – so wie die Einsätze im urbanen Gebiet auf der Erdoberfläche – die nicht zu vernachlässigende Gefahr hinzu, dass beispielsweise Wände einstürzen könnten. Einsätze in Tunnels oder Bergwerken stellen die Truppen vor besondere Herausforderungen. Selbst erfahrene Einsatzkräfte können bei Untergrundaktivitäten in bislang unbekannte und belastende Situationen kommen.
Der untertägige Einsatzraum
Besonders in Industrienationen wird aufgrund der voranschreitenden Urbanisierung der Lebensraum auf der Oberfläche zunehmend knapper. Die dichtere Bebauung in Verbindung mit der funktionalen Urbanisierung nimmt Raum in Anspruch. Das führt dazu, dass der Bereich unter der Erdoberfläche eine größere Berücksichtigung finden muss. Waren früher untertägige Hohlräume im Wesentlichen bergbaulichen Tätigkeiten zuzuschreiben, werden nun zunehmend Untertagebauwerke für die Infrastruktur, zur Speicherung von Energierohstoffen und für die Lagerung von Gütern und von Abfallstoffen genutzt. Die kontinuierliche Ausweitung und stetige Verbesserung des Ausbaues untertägiger Strukturen haben deren Nutzbarkeit für alle Bereiche des Lebens deutlich verbessert und erleichtert. Insgesamt ergibt sich eine steigende Nutzung aller Arten von unterirdischen Bauwerken durch den Menschen.
Wegen der speziellen Charakteristik des Einsatzraumes unter der Erdoberfläche, der spezifischen Gefahren und der massiv erschwerten Einsatzführung finden sich Einsatzkräfte dort in ganz besonderen Lagen wieder. Gegnerische Kräfte können die untertägigen Strukturen für die eigene Einsatzführung nutzen. Durch die Beengtheit des unterirdischen Raumes werden Kräfte kanalisiert und die Annäherung für die eigenen Kräfte beträchtlich erschwert. Aufgrund der Stärke von subkonventionell agierenden Gegnern bietet sich der untertägige Einsatzraum als Teil des urbanen Umfeldes als Rückzugsmöglichkeit an. Die Nutzung der Gegebenheiten für terroristische Anschläge und Geiselnahmen bei stark frequentierten Bauwerken wie U-Bahnstationen kann nicht ausgeschlossen werden. Für eigene Kräfte hingegen ergeben sich im Hinblick auf die Bewegung, den Schutz, die Wirkung und Deckung sowie für die Nutzung der eigenen Führungsmittel herausfordernde Situationen. Eine Störung der Führungsunterstützung für einen vermeintlichen Gegner unter Tage ist einfacher zu bewerkstelligen als bei Aktionen auf der Erdoberfläche. Nicht zu vernachlässigen ist der Umstand, dass Soldaten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unter der Erdoberfläche die meiste Zeit unter Atemschutz arbeiten müssen. Daher erfordert die Bewältigung eines derartigen Einsatzes eine gezielte Vorbereitung, straffe Führung, stetige Risikoanalyse und eine Fachberatung durch mit diesem Umfeld vertraute Experten.
Gefahren, Risiken und Bedrohungen
Um Einsätze in der Infrastruktur unter der Erdoberfläche überhaupt führen und durchführen zu können, muss durch die eingesetzten Einsatzkräfte ein spezifisches Wissen über die gegnerische und eigene Einsatzführung vorhanden sein. Die Entscheidungsträger aller Ebenen (Kommandanten, Einsatzleiter, Leiter von Stäben) müssen in der Lage sein, alle möglichen Risiken und Einflussfaktoren zu beurteilen und zu bewerten, um den eingesetzten Kräften den notwendigen Schutz bieten zu können. Neben den vorherrschenden strukturellen, materiellen und atmosphärischen Umfeldbedingungen treten erschwerte psychologische und gefechtstechnische Probleme in den Vordergrund.
Während im Altbergbau durch marode Firste (obere Begrenzungsflächen eines untertägigen Bauwerkes; Anm.) oder schlecht abgedeckte Schächte eine „sichtbare“ Gefahr für alle eingesetzten Kräfte herrscht, sind die nicht offensichtlichen Gefahrenquellen noch gefährlicher. So können lebensgefährliche Bedrohungen ohne ein Einwirken eines Gegners im untertägigen Einsatzraum zusätzlich durch die bloße, aber nicht sichtbare Anwesenheit von Chemikalien, Gasen oder schlichtweg „schlechter“ Luft vorhanden sein. Selbstverständlich gibt es für rein zivile Geschehnisse Spezialisten, die zumeist selbstständig in der Lage sind, diese auch zu beherrschen. Wird der Blick aber auf das aktuelle Bedrohungsbild in Verbindung mit den oben genannten Gefahren gerichtet, so können selbst Großschadenereignisse unter Tage schnell komplexe Ausmaße annehmen.
Aktuelles Bedrohungsbild und komplexe Szenarien
Das Militärstrategische Konzept 2017 (MSK17) brachte ein generelles Umdenken mit sich. Der mit diesem Konzept stattgefundene Paradigmenwechsel leitet sich teilweise aus den globalen Trends ab, die im gleichzeitig erarbeiteten Bedrohungsbild detailliert angeführt sind. Werden aktuelle Konflikte ausgewertet und internationale militärstrategische Konzepte studiert, so kann davon ausgegangen werden, dass künftig vor allem unterhalb der kriegsvölkerrechtlich normierten Schwelle eines Krieges agiert werden wird. Den klassischen und klar ansprechbaren Unterschied zwischen Krieg und Frieden wird man kaum mehr so finden, wie man das früher anhand der großen Kriege in der Geschichte sehen konnte.
Nach kriegsgeschichtlicher Betrachtung, gepaart mit einer Analyse des derzeit vorherrschenden Bedrohungsbildes, ist der Einsatz unter Tage keine Neuerfindung. Wurden beispielsweise im Vietnam-Krieg noch dicht verzweigte, enge Tunnelsysteme benutzt, um sich vor dem Gegner zu schützen und weitere subkonventionelle Aktionen vorzubereiten und durchzuführen, so findet man in den heute gut ausgebauten und durch große Menschenmassen genützten Systemen als terroristischer Akteur weit breitere Handlungsfelder. Modern erschlossene U-Bahn-Stationen könnten bei einem Wirksamwerden durch Kampfmittel aller Art rasch zu einem lebensfeindlichen Umfeld werden.
Rolle des Bundesheeres
Ein komplexer Einsatz unter Tage ist dadurch gekennzeichnet, dass gewaltbereite Gegner in einem weitverzweigten und unüberschaubaren Untertagebauwerk wirksam werden können. Vitale Funktionen wie Lüftung und Licht sind nicht immer vorhanden oder können ohne Vorwarnung ausfallen. Es kommt besonders auf die klare Trennung zwischen der für die verschiedenen Einsatzkräfte relevanten Szenarien an. So muss ein ziviles Unglück, beispielsweise eine Entgleisung von U-Bahn-Waggons, nicht immer bedeuten, dass alle Einsatzorganisationen eingesetzt werden müssen. Auch hier kann die Trennlinie bei Ereignissen mit großem Schaden nicht immer klar gezogen werden. Bei der Brandkatastrophe der Gletscherbahn Kaprun 2 am Kitzsteinhorn im Jahr 2000 wurde das Österreichische Bundesheer für Unterstützungsleistungen bzw. Katastrophenhilfe umgehend nach Bekanntwerden des Ausmaßes angefordert und war mit begrenzten Kräften eingesetzt. Das Militär in Österreich spielt bei den angesprochenen „zivilen“ Szenarien im Sinne der Unterstützung anderer Einsatzkräfte eine zwar wichtige, aber doch untergeordnete Rolle. Handelt es sich aber um mehrere Ereignisse, die gleichzeitig oder zeitlich knapp aneinandergereiht an mehreren oder an einem Standort eintreten, so ist davon auszugehen, dass das Militär in Österreich entweder in einem sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz oder in einer Schutzoperation relativ rasch an der Seite der Bundespolizei wirksam werden wird.
Ausbildung für Einsätze unter Tage
Lageentwicklungen bedürfen aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit einer ständigen Anpassung und der Bereitschaft zu Veränderungen. Komplexe Einsätze unter Tage zeichnen sich durch einen teilweise chaotischen und unklaren Verlauf aus, mit dem die eingesetzten Kräfte vertraut gemacht werden müssen. Darauf müssen ausgewählte Organisationselemente des Bundesheeres vorbereitet werden.
Die Ausbildung dafür findet in sieben Stufen statt. Hierbei wird zwischen einer akteursübergreifenden und einer speziellen für das Militär konzipierten Ausbildung unterschieden. Ziel ist es, die Masse der Soldaten für komplexe Einsätze unter Tage einsatzbereit zu machen. Um die Vielschichtigkeit an Informationen verarbeiten und dokumentieren zu können, wurde im Bundesheer die Projektgruppe NIKE gebildet.
Projekt NIKE
Die Forschungsgruppe NIKE (Nachhaltige Interdisziplinarität bei komplexen Einsätzen unter Tage) erforscht derzeit, wie Einsätze unter der Erdoberfläche durchgeführt werden können. Durch diese Projektgruppe wird die Forschungs- und Entwicklungsarbeit koordiniert und dokumentiert. In enger Zusammenarbeit mit zivilen Einsatzorganisation werden zusätzlich mögliche Szenarien entwickelt, die nach Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungen auf Österreich bewertet werden. Für diese Bewertungen bedient sich das Projektteam ziviler Experten, die in einer „Untertage-Zelle“ die Beratungen, Risikoanalysen und Unterstützungen in der Führung der eingesetzten Kräfte übernehmen können.
Untertage-Zelle und erweiterter Stab
Um die Komplexität möglicher Szenarien meistern zu können, wurde eine für diese Einsätze aufgestellte und ausgebildete Zelle installiert. Neben den allgemeinen Beratungen für den Stab und für die Kampfgruppe wird in der ständigen Lagefeststellung eine Risikoanalyse durch Experten aus den Bereichen Bergbau, Tunnel- und Straßenbau, Grubenrettungswesen und Geologie durchgeführt, um den eingesetzten Soldaten den notwendigen Schutz anbieten zu können.
Durch die Einbindung moderner Technik ist es möglich, Organisationselemente bis auf die kleinste Ebene auf gezielte Einsätze gründlich vorzubereiten. Befehlsausgaben sowie gefechtstechnische Betrachtungen können über eine Virtual Reality-Brille gesteuert und dem gewünschten Personenkreis gezeigt werden.
Kampfgruppe NIKE
Die kompaniestarke Kampfgruppe NIKE soll sich nach abgeschlossener Erprobung aus einer Jägerkompanie, einem Pionier- und Kampfmittelabwehrzug sowie Kräften der ABC-Abwehr zusammensetzen. Auch die temporäre Unterstellung von Teilen der Militärpolizei oder Kräften des Jagdkommandos wird grundsätzlich angestrebt. Nach abgeschlossener Ausbildung und gemeinsamer Übungstätigkeit sollen das Zusammenwirken innerhalb der Kräfte des ÖBH sowie die Zusammenarbeit mit zivilen Einsatzorganisationen soweit fortgeschritten sein, dass komplexe Einsätze unter Tage durchgeführt werden können.
Die waffengattungsübergreifende Ausbildung unter gleichzeitiger Zusammenarbeit, beispielsweise mit Kräften der Bundespolizei oder der Feuerwehr, soll bei diesem gebildeten Element im Vordergrund stehen. Durch die derzeit noch in Ausbildung befindliche Kompanie wurden bis dato bereits einige Erprobungs- und Ausbildungsschritte im schwierigen Gelände in untertägiger Infrastruktur durchgeführt, die eine große Lücke in der Fähigkeiten- und Vorschriftenlage im ÖBH gezeigt hat. Hier gilt es künftig anzuknüpfen und die Fähigkeiten und Fertigkeiten, vor allem in den Bereichen der Gefechtstechnik in Verbindung mit den notwendigen Schutzmaßnahmen, weiter auszubauen.
Da im schlechtesten Fall im untertägigen Einsatzraum nichtatembare Luft das Vorgehen erschwert, muss das Vorgehen der Infanterie- und Pionierkräfte auch unter Atemschutz geübt werden. Der Einsatz gepanzerter beziehungsweise zumindest geschützter Fahrzeuge zur Unterstützung der Kampfgruppe spielt hierbei eine mindestens gleich große Rolle wie das Zusammenwirken mit Diensthunden des ÖBH.
Besonderheiten der Gefechtstechnik
Um in komplexen Szenarien unter Tage bestehen zu können, muss die Ebene Zug/Kompanie eine spezielle Ausbildung in der Gefechtstechnik erhalten. Jegliches Vorgehen muss detailliert geplant und geübt werden. Neben den bereits erwähnten Risiken zeichnet sich der untertägige Einsatzraum vor allem durch Unsicherheit und Fehlen von Deckungen und Schutz aus. Die Schwierigkeiten in der Orientierung, gepaart mit einem unberechenbaren Gegner, schaffen scheinbar unlösbare Voraussetzungen für Soldaten. Gleichzeitig haben alle Einflussfaktoren rasch Auswirkungen auf jeden Einzelnen. Die Gefechtstechniken, die bereits beim Kampf im urbanen Umfeld Anwendung finden, können sinngemäß ebenfalls unter Tage angewendet werden. Zusätzlich ist unter Atemschutzbedingungen vorzugehen. Der Einsatz von Nachtsichtbrillen mit Restlichtverstärkern in Verbindung mit Infrarotgeräten an Waffen funktioniert unter Umständen nicht, was die Verwendung eigener Markiersysteme und den Einsatz von künstlichen Lichtquellen unabdingbar macht. Um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, muss die Gefechtstechnik für solche komplexen Einsätze unter Tage weiter erprobt und Ausbildungsschritte verfeinert werden.
Auf einen Blick
Streitkräfte der Zukunft müssen zur Bewältigung der Aufträge im nationalen sowie im internationalen Spektrum weiterhin breit gefächert sein. In einer möglichen Schutzoperation, die aktuell einsatzwahrscheinlichste Form der militärischen Landesverteidigung, haben Soldaten den Schutz Kritischer Infrastruktur und somit die staatliche Führungsfähigkeit und Grundversorgung sicherzustellen. Ein weiteres Umdenken auf allen Ebenen unter Berücksichtigung aller möglichen Szenarien ist für Militärs unumgänglich. Der Einsatz unter Tage muss daher zu einer standardisierten Fähigkeit des Bundesheeres werden.
Hauptmann Ing. Philipp Kiedl, BA ist Offizier beim Kommando Streitkräfte.