Kampfstoff Nowitschok
Der Nachweis von chemischen Kampfstoffen der vierten Generation ist mittlerweile im Labor möglich. Bisher scheiterte die feldmäßige Detektion mit mobilen Geräten. Das ABC-Abwehrzentrum und das Schweizer Labor Spiez arbeiten gemeinsam an einem Forschungsprojekt. Es ist gelungen, diese Kampfstoffe mit einer tragbaren Lichtquelle sowie einer speziellen Kamera nachzuweisen.
Geschichte und Entwicklung
Chemische Kampfstoffe haben schon mit dem Ersten Weltkrieg Einzug in die Kriegsführung gehalten. Verschiedene Stoffgruppen wurden seither mit unterschiedlichen Zielen und Wirkungsmechanismen entwickelt, wie Lungenkampfstoffe,
Hautkampfstoffe, Nervenkampfstoffe, Blutkampfstoffe oder Psychokampfstoffe. Die Einteilung der chemischen Kampfstoffe in Generationen richtet sich nach den Meilensteinen in deren Entwicklung (siehe Grafik).
Generationeneinteilung
Die erste Generation bezeichnet Chemikalien, die im Ersten Weltkrieg als Kampfstoffe eingesetzt wurden. Dazu zählen die Lungen-, Blut- und Hautkampfstoffe. Als zweite Generation versteht man die Entwicklung der Nervenkampfstoffe, die in der Zwischenkriegszeit maßgeblich in Deutschland vorangetrieben wurde, im Zweiten Weltkrieg aber keine Anwendung in Europa fand. Die dritte Generation umfasst die Weiterentwicklung der Herstellungswege, um die Nervenkampfstoffe als „binäre Stoffe“ verfügbar zu machen. Das bedeutet, dass die letzte Synthesestufe durch eine sehr schnelle und einfache Reaktion von nur zwei Chemikalien erfolgt. Diese beiden Komponenten sind meistens weniger toxisch und verfügen über eine bessere Haltbarkeit und Lagerstabilität. Erst durch das Zusammenmischen entfalten sie die volle Wirkung.
Die Existenz und Entwicklung von Kampfstoffen der vierten Generation (Fourth Generation Agents – FGA) oder von Nowitschok (übersetzt russisch für Neuankömmling; Anm.) wurden seit der ersten Publikation ihrer Existenz durch den russischen Chemiker Wil Sultanowitsch Mirsajanow, der in den 1990er-Jahren in die USA emigrierte, immer wieder diskutiert. In der Wissenschaft wurden speziell zwischen 2007 und 2010 einige Arbeiten veröffentlicht, die sich mit den möglichen Strukturen und Eigenschaften dieser neuartigen Gruppe von chemischen Kampfstoffen beschäftigten. Experten ordneten über 100 verschiedene chemische Verbindungen in diese Kategorie ein. Die zum damaligen Zeitpunkt unbestrittene Information war, dass Nowitschoks als Nervenkampfstoffe, also als Acetylcholinesterasehemmer, wirken. Inzwischen hat sich als chemischer Trivialname eine Bezeichnung mit „A“ und einer dreistelligen Nummer durchgesetzt (z. B. A-232). Dadurch werden die FGA auch Stoffe der A-Reihe genannt und führen damit die Benennung der anderen Nervenkampfstoffgruppen (G-Reihe mit z. B. Sarin oder V-Reihe mit z. B. VX) fort.
Über die Entwicklung wurde viel gemutmaßt. Das dahinterstehende „Foliant-Projekt“ war ein streng geheimes sowjetisches Programm zur Erforschung und Entwicklung von chemischen Waffen, mit dem Fokus auf Nervenkampfstoffe. Das Projekt wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren im Kalten Krieg durchgeführt und war eng mit dem sowjetischen Biowaffenprogramm verbunden.
Nowitschok Entwicklungsvorgaben
Das Programm verfolgte drei Ziele. Nowitschoks sollten:
- die Schutzmaßnahmen wie ABC-Schutzanzüge der Gegner durchdringen und ihre Wirkung trotz Gegenmaßnahmen voll entfalten,
- aus Vorläuferstoffen hergestellt werden können, die deutlich weniger toxisch und lagerstabiler als die Endprodukte sind und sie sollten nicht unter die sich damals noch in Planung befindliche Chemiewaffenverordnung (Entstehungsverhandlungen ab 1984) fallen,
- die Erkennungsmaßnahmen der Gegner unterlaufen – also mit den verfügbaren Sensoren und Detektionstechnologien nicht erkannt werden können.
Vorfälle mit Nowitschok
Der erste dokumentierte Einsatz von Nowitschok, der auch eine große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregte, war der Anschlag 2018 auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergei Skripal in Salisbury (siehe TD-Heft 1/2023). Dabei wurden Skripal und seine Tochter Yulia vergiftet. Im Gegensatz zum ursprünglich entwickelten Zweck eines militärischen Einsatzes wurde ein FGA für ein gezieltes Attentat verwendet. Die damalige Ausbringungsart ist nach wie vor Gegenstand von Ermittlungen und nicht offiziell bekannt. Die Vermutung geht jedoch dahin, dass eine Türschnalle kontaminiert wurde und die Skripals entweder durch Handschuhe oder direkt mit der Haut in Kontakt mit dem Stoff kamen. Dabei dürfte die Routine des Händewaschens nach der Heimkehr einen wesentlichen Aspekt für das Überleben der beiden gespielt haben.
Zusätzlich zu diesem Anschlagsziel kam das unbeteiligte Paar Charlie Rowley und Dawn Sturgess in der nahe gelegenen Stadt Amesbury in Kontakt mit dem Kampfstoff. Das Paar lebte in ärmlichen Verhältnissen. Der Mann fand den weggeworfenen Flakon und schenkte ihn seiner Freundin. Diese sprühte sich in der Annahme, dass es sich um Parfum handelt, damit ein. Sturgess verstarb im Spital, Rowley überlebte. Es wird davon ausgegangen, dass das direkte, feine Aufbringen durch Sprühen die Wirkung des chemischen Stoffes erst richtig entfaltete.
Auch der russische Dissident Alexei Nawalny wurde 2020 mit Nowitschok vergiftet. Hier gehen die Theorien von einer Kontamination seiner Unterwäsche bis hin zu einer chemisch modifizierten Version mit verzögerter Wirkung in einer Trinkflasche aus. Nawalny hat den Anschlag überlebt, was vor allem einer guten medizinischen Betreuung zu verdanken war. Eine Parallele zum Anschlag auf die Skripals ist, dass beide wohl über Notfallprotokolle im Falle einer möglichen Vergiftung verfügten und dadurch schnell und zielgerichtet medizinische Hilfe bekamen. Solche Notfallprotokolle beinhalten beispielsweise Ausbildung in der Eigenerkennung von Vergiftungssymptomen, Notfallkontakte, die über die übliche Rettungskette hinausgehen und Erstmaßnahmen wie sofortiges Waschen exponierter Körperoberflächen oder das Herbeiführen von Erbrechen bei vorheriger Konsumation.
Nowitschok Entwicklungsergebnisse
Was ist von dieser ursprünglichen sowjetischen Ambition vor rund 40 Jahren übrig? Ein Vergleich mit den Entwicklungsvorgaben des Nowitschok-Programmes zeigt, dass nur mehr eines dieser Ziele eine bedeutende Herausforderung darstellt – die feldmäßige Detektion.
Die Vielzahl der unterschiedlichen Verbindungen, die zur A-Reihe gezählt werden, gibt es als Flüssigkeiten und als Feststoffe. Die Toxizität von einigen dieser Verbindungen soll fünf bis achtmal höher als die des hochgiftigen, chemischen Kampfstoffes VX sein. VX gehört zur V-Reihe, dringt über Augen, Haut und die Atemwege in den Körper ein, führt zu Husten, Übelkeit, Krämpfen und tötet innerhalb weniger Minuten. Die Eintrittspfade in den Körper lassen sich ebenfalls mit VX vergleichen.
Alle Nervenkampfstoffe wirken tödlich, wenn eine entsprechende Konzentration aufgenommen wird. Aber im Gegensatz zur G-Reihe wirken die V- und die A-Reihe auch durch die Aufnahme über die Haut. Wenn man dazu beachtet, dass die Stoffe nur schwer in die Gasphase übergehen, also hohe Siedepunkte und einen geringen Dampfdruck aufweisen (militärisch als „schwer flüchtige“ oder „sesshafte“ Stoffe bezeichnet), ist – speziell für ein Attentat – die Aufnahme über die Haut sogar als primärer Expositionspfad anzunehmen.
Schutzmaßnahmen
Aktuell sind keine Berichte darüber bekannt, dass die Nowitschoks die ABC-Schutzanzüge durchdringen können. Auch wenn der Kontakt mit den Kampfstoffen gefährlich ist, so kann die verfügbare, in westlichen Armeen eingeführte ABC-Schutzausrüstung ein Durchdringen verhindern. Damit wäre das erste Ziel des Foliant-Programmes als gescheitert anzusehen.
Chemiewaffenverordnung
2019 wurden die Anhanglisten der Chemiewaffenkonvention um die Substanzklassen der A-Reihe ergänzt und diese offiziell aufgenommen. Damit geht die Bereitstellung von chemischen Strukturen und Analysedaten für den Labornachweis einher. Soweit die Herstellungswege und Synthesepfade der Substanzen bekannt sind, gibt es einige, binäre Stoffe. Damit ist auch das zweite Ziel des Foliant-Programmes nicht mehr relevant, da diese Substanzen nun auf dem Radar der Chemiewaffenkonvention sind.
Detektion
Einzig das dritte Ziel, die Erkennungsmaßnahmen der Gegner zu unterlaufen, ist in Teilen gelungen. Es ist möglich, Nowitschoks im Labor nachzuweisen. Eine Früherkennung im Feld ist nach wie vor eine Herausforderung für die zivilen und militärischen ABC-Abwehreinheiten.
Detektion bisher
Immer noch sind die Möglichkeiten, Nowitschoks im Feld aufzuspüren, wenig praktikabel, obwohl inzwischen anwendbare Technologien und Datenbanken existieren. Das liegt daran, dass aufgrund der chemischen Eigenschaften (vor allem der Sesshaftigkeit) die Detektion in der Gasphase äußerst schwierig ist. Der geringe Anteil an nachzuweisendem Material während der Gasphase und die sehr niedrige Nachweisgrenze, die in mobilen Geräten bisher nicht umgesetzt werden konnte, sind der limitierende Faktor. Alternativen funktionieren über das Abwischen oder Abkratzen von möglicherweise betroffenen Oberflächen, verbunden mit einem Heizvorgang, um mehr Stoffanteile für die Gasmessung verfügbar zu machen. Das ist bereits möglich, aber mit hohem Arbeitsaufwand in der ABC-Schutzausrüstung verbunden. Bei einer Freisetzung (vermutet oder bestätigt) muss also in hoher Detailarbeit (eine Wischprobenfläche umfasst 10 x 10 cm) jede möglicherweise kontaminierte Oberfläche überprüft und danach gegebenenfalls dekontaminiert werden. In Salisbury und Amesbury wurden über 250 Dekontaminationseinsätze mit mehr als 13 000 Arbeitsstunden in Schutzausrüstung durchgeführt. Die Erfahrungen aus dem Skripal-Attentat haben gezeigt, dass es Alternativen bei der Detektion der FGA braucht. Verglichen mit Großbritannien sind in Österreich nur ein Bruchteil der ABC-Abwehrkapazitäten (zivil und militärisch) verfügbar, ein Anlassfall hätte aber eine vergleichbare Größenordnung.
Neue Technik der Detektion
Die bisherigen Methoden der Detektion erwiesen sich im Feld als wenig praktikabel. Das ABC-Abwehrzentrum in Korneuburg arbeitet seit fast zehn Jahren an der Schnittmaterie zwischen Tatortforensik und ABC-Gefahren. In der Tatortforensik gibt es seit den 1950er-Jahren die Anwendung von UV-Licht zum Sichtbarmachen von Spuren wie Blut. Daraus entwickelte sich die Arbeitshypothese, ob nicht auch Nowitschoks bei der Anregung mit speziellen Lichtwellenlängen eine Reaktion zeigen könnten. Zur Überprüfung dieser Gedanken braucht es zwei Dinge: eine entsprechende Lichtquelle und einen Zugang zu realen Kampfstoffen der vierten Generation.
Im Rahmen der D-A-CH Kooperation (Deutschland – Österreich – Schweiz) bestehen seit vielen Jahren Verbindungen zum Labor Spiez in der Schweiz. Dabei handelt es sich um ein von der OPCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) designiertes Hochsicherheitslabor, in dem solche Stoffe zu Verteidigungsforschungszwecken gehandhabt werden dürfen. Die Idee fand in der Schweiz großen Anklang. In wenigen Monaten konnten mit dem Crime-Lite-X-10 eine tragbare LED-Lichtquelle mit 175 möglichen Wellenlängenkombinationen und mit einer speziellen Kamera – der Crime-Lite-AUTO –
zur Dokumentation beschafft werden. Damit wurden mehrere Messkampagnen im Labor in Spiez durchgeführt und verschiedene Wellenlängen, Oberflächen und Materialien getestet.
Tatsächlich konnte bei der Nutzung der blauen Wellenlänge (445 nm) eine optisch erkennbare Reaktion bei Nowitschoks aus allen 2019 neu hinzugekommenen Untergruppen der Chemiewaffenkonvention nachgewiesen werden. Die Anwendung wurde auf verschiedenen Oberflächen (Metall, Plastik, Nitril-Handschuhe) und in den Lagergefäßen erfolgreich demonstriert.
Es handelt sich dabei um eine Detektionsmethode, die Nowitschoks erkennen kann, aber auch andere Stoffe anregt. Daher ist nicht jeder Punkt oder Fleck, der unter Einwirkung dieser Wellenlänge zu „leuchten“ beginnt, automatisch ein FGA. Aber es lassen sich verdächtige Oberflächen wesentlich schneller screenen und es erhöht die Zeit für Gegenmaßnahme. Das Verfahren kann nicht nur als Abwehrmaßnahme nach einer vermuteten Freisetzung, sondern auch zur präventiven Untersuchung von Aufenthaltsorten für gefährdete Menschen, die als Hochwertziele (High Value Targets) eingestuft sind, angewendet werden.
Das beschriebene Verfahren wurde im Jahr 2023 in einem Peer-reviewed-Fachjournal publiziert und zeigt die Qualität der Forschung am ABC-Abwehrzentrum.
Resümee
Das Verfahren der LED-Lichtquelle mit ihren 175 möglichen Wellenlängenkombinationen zur Detektion zu verwenden und dies mit der Crime-Lite-AUTO – einer speziellen Kamera – zu dokumentieren, ist noch nicht gänzlich ausgereift. Es wird laufend in der bestehenden Schweizer Kooperation weiterentwickelt. Ergänzend sind noch weitere chemische Verbindungen der A-Reihe sowie mögliche Querempfindlichkeiten zu testen und die Nachweisgrenzen mit der Konfidenz und die Abhängigkeit von Tageslicht zu ermitteln. Auch die Anwendung von Hyperspektraldetektoren in Kombination mit der Wellenlängenanregung werden untersucht. Derzeit sind die Geräte in der ersten ABC- und Umweltmessstelle des ABC-Abwehrzentrums implementiert. Dieses Element verfügt über die Technologie, eine verdächtig ausgemachte Stelle feldmäßig zu identifizieren, soweit das möglich ist.
Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 4/2023 (394).