Militärwissenschaftliche Forschung
Vor zwei Jahren habe ich an dieser Stelle über zehn Gründe, unter die Erde zu gehen, geschrieben. Vor einem Jahr habe ich die Frage gestellt, ob wir für urbane Einsatzführung wirklich vorbereitet sind.
Mit dem Hintergrund der Bilder, die uns schon seit geraumer Zeit aus der Ukraine und aus Gaza erreichen, möchte ich hier nun die Frage stellen: Welche Rolle Forschung und Entwicklung im Rahmen der Fähigkeitsentwicklung ein? Aktuell habe ich die Wahrnehmung, dass wir zwar Forschung betreiben, aber das Umfeld insgesamt forschungshemmend ist. Das liegt daran, dass Innovationen zwar gewünscht werden, aber innovative Mitarbeiter und Forscher nicht das erforderliche Maß an Unterstützung finden. Das fällt besonders bei der Entwicklung der Fähigkeit zur Einsatzführung im urbanen Umfeld auf – eine Schwergewichtsaufgabe des Bundesheeres.
Züge oder Kompanien begeben sich auf Übungsplätze, die meistens nur aus einer Handvoll einzelner Gebäude bestehen, und geben vor, sich mit Übungsmunition auf Einsätze im urbanen Umfeld vorzubereiten. Die Botschaft könnte nicht irreführender –
oder besser – schlichtweg falsch sein. Soldaten und Kommandanten, motiviert und begierig auf die seltenen Möglichkeiten versuchen, das bebaute Gelände maximal auszunutzen, und vergessen dabei den breiteren Kontext – einschließlich ethischer, moralischer, rechtlicher und gesundheitlicher Fragen – aufgrund des Mangels an Lebenserfahrung und Realismus.
Wie müssen Kräfte für den abgesessenen Einsatz im urbanen Umfeld gegliedert und ausgerüstet sein? Wie können Visualisierung und ballistischer Schutz kombiniert werden? Welche Waffensysteme eignen sich für den Einsatz? Welche Kollateralschäden entstehen? Wie müssen wir mit der verbliebenen Zivilbevölkerung umgehen? Welche langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen haben Zementstaub und Sprengschwaden? Wann sprechen wir eigentlich von einem urbanen Umfeld? Wie gehen wir mit einer Terrorgruppe um, die sich den Untergrund einer Großstadt für ihre Einsatzführung zunutze macht? Wie müssen Unmanned Aerial and Ground Vehicles für den Einsatz in einem zerstörten urbanen Umfeld aussehen? Wie wird die Führung bei Einsätzen im urbanen Raum gefordert? Wie wird die bewegliche Befehlsstelle in Zukunft aussehen? Wie kann ein Urban Operations Vehicle aussehen? Diese, und noch viel mehr Fragen kann die militärwissenschaftliche Forschung beantworten, wenn sie richtig genutzt wird. Dazu gehören interdisziplinäre Koordination und Zusammenarbeit, Flexibilität sowie Unterstützung auf der „letzten Meile“.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen herausfordernder Referenzszenarien schafft eine Umgebung für zielgerichtete und zukunftsorientierte Forschung. Szenarien schaffen Verständnis für das Zusammenwirken von Teilprojekten und geben die Möglichkeit, diese besser und langfristig aufeinander abzustimmen. Die Zusammenarbeit des militärwissenschaftlichen Nachwuchses aus den Bachelor- und Master-Lehrgängen mit internationalen Studierenden und Forschungspartnern aus der Industrie fördert den Austausch und es entstehen Forschungsprogramme mit höherer Wirksamkeit. Das Bundesheer unterstützt Forschungspartner in einer einzigartigen Art und Weise.
Wir verfolgen täglich das Kriegsgeschehen in aller Welt – das Internet bringt diese Bilder und Erfahrungen von den Kampfhandlungen direkt in unsere Kanzleien. Militärwissenschaftliche Forschung erfordert Flexibilität, um die daraus resultierenden Erkenntnisse zu verarbeiten. Das Warten auf den Abschluss eines Lessons Learned Prozesses ist der falsche Weg. Mit einem breit angelegten militärwissenschaftlichen Diskurs können Anpassungen viel rascher erfolgen.
Die Unterstützung auf der letzten Meile sorgt letztendlich dafür, dass Forschungsergebnisse nicht in Form von Demonstratoren in den Kellern unserer Liegenschaften verstauben. Aktuell erreichen wir mit den Projekten Technologiereifegrade, die für einen Einsatz im Felde noch nicht ausreichen. Es gibt allerdings vielversprechende Projekte, die kurz vor einer möglichen Nutzung stehen. Hier könnte eine rasch verfügbare Finanzierung für Rapid Developments Forschungsinvestitionen aufwerten und Forschungsanreize schaffen.
Manche Forscher werden oft mit der Frage konfrontiert, was als Nächstes kommt. Albert Einstein hat dies sehr treffend beantwortet: “If we knew what it was we were doing, it would not be called research, would it?” Wenn wir nach einem Plan vorgehen können und wenn wir wüßten, was uns an der nächsten Kreuzung erwartet, dann sind keine Forscher gefragt, sondern Manager.
Die Fähigkeitsentwicklung für urbane Einsätze bietet eine großartige Gelegenheit für kleine Streitkräfte, da die erforderlichen Elemente überschaubar sind. Militärwissenschaftliche Forschung kann einen wichtigen Beitrag leisten – wenn man sie lässt und sie bei der „letzten Meile“ unterstützt, ganz im Sinne von Jim Mattis: „You must unleash initiative and not suffocate it.“
ObstdG Mag. Dr. Peter Hofer; Leiter Institut 2/TherMilAk.
Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 1/2024 (396).