• Veröffentlichungsdatum : 24.03.2023
  • – Letztes Update : 28.03.2023

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Krieg in der Ukraine

Berthold Sandtner

Der Krieg in der Ukraine ist noch lange nicht vorbei. Dennoch lassen sich bereits jetzt militärisch wertvolle Ableitungen erkennen. Im Fähigkeitsbereich "Vorbereitung (Prepare)" ergeben sich entscheidende Impulse für die weitere Entwicklung der europäischen Streitkräfte.

Dieser Artikel entstand auf Basis eines Impulsreferates des Autors während der „Days of Military Science“ am 18. September 2022 am Slovenian Armed Forces Military School Center in Marburg. Er soll einen Blick auf mögliche Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf die Entwicklung von Streitkräften aus einem österreichisch gefärbten europäischen Blickwinkel bieten.

Entwicklung europäischer Streitkräfte nach Ende des Kalten Krieges

Am 26. Dezember 1991 endete offiziell die Ära der Sowjetunion. Nach einem beispiellosen Wettrüsten, das nahezu fünf Jahrzehnte gedauert hatte, kam es zu einer endgültigen Auflösung der geografisch, politisch und militärisch teilenden bipolaren Machtsystematik in Europa. Das östliche Verteidigungsbündnis, der Warschauer Pakt, war schon länger mehr Schein als Sein und löste sich am 31. März 1991 auf. 

Die Neuordnung der Verhältnisse in Europa, verbunden mit Einsätzen zur Krisenbewältigung – vorerst vorwiegend auf dem Balkan und in der Folge auch in Afghanistan –, brachte eine umfassende Transformation der Streitkräfte europäischer Staaten mit sich. Robuste konventionelle Fähigkeiten und Mannstärken wurden zugunsten von für sogenannte Stabilisierungsoperationen notwendige Fähigkeiten stark abgeschmolzen. Die Streitkräfte begannen Aufgaben zu übernehmen, die nicht ihrem ursprünglichen Charakter entsprachen. 

Die multinationale Kooperation im Rahmen von Stabilisierungsoperationen war nunmehr der allgemein akzeptierte Betrachtungshintergrund für die Entwicklung von Konzepten und Strukturen. Die Reform ÖBH 2010 stand mit der Ambition „Rahmenbrigade“ genau in diesem Fokus. In Europa begann die Bereitschaft, entsprechende finanzielle Ressourcen für Streitkräfte bereitzustellen, stark abzunehmen.

Insgesamt wurden in den 2010er-Jahren sicherheitspolitisch zwei ineinander verwobene Phänomene bestimmend: Die „Idee“ der hybriden Bedrohung und die zunehmende Bereitschaft der Russischen Föderation, mit mehr oder weniger erfolgreiche Verschleierung, strategische Interessen auch mit militärischen Mitteln umzusetzen. Beispiele dafür sind Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 oder die seit 2015 andauernde Intervention in Syrien. Interessanterweise sah man die Russische Föderation zwar als „das“ Role Model des hybrid agierenden Gegners an, gleichzeitig sprach man jedoch vielfach davon, dass sich der hybride Konflikt mit größter Wahrscheinlichkeit unterhalb der Schwelle des offenen militärischen Kräfteeinsatzes abspielen würde.

Ausgehend von diesem Umfeld kam es am 24. Februar 2022 schlussendlich zu einem offenen konventionellen Krieg zwischen zwei Staaten: der Russischen Föderation und der Ukraine. In den folgenden Abschnitten soll nunmehr der Versuch unternommen werden, daraus Ableitungen für die Streitkräfteentwicklung zu treffen. Dabei sollen auszugsweise drei Dimensionen betrachtet werden: die strategische, die konzeptiv/doktrinäre und jene der 
Fähigkeitsentwicklung. 

Beobachtungen und Folgerungen für die Entwicklung von Streitkräften 

Die strategische Dimension 

Aus einem strategischen Blickwinkel gibt es drei Aspekte, die eine nähere Betrachtung verdienen: die nukleare Komponente, die Bedeutung von Bündnissen und die „Gesamtstaatlichkeit“ des Krieges.

Die nukleare Komponente 

Das Jahr 2022 bescherte der theoretischen Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen eine Aufmerksamkeit, die sie vermutlich seit der Kuba-Krise im Jahr 1962 nicht mehr gehabt hatte. Das war zumindest von russischer Seite durchaus so gewollt.

Betrachtet man die Chronologie der nuklearen Drohgebärden Moskaus, so fällt auf, dass rund um den Beginn des Krieges in der Ukraine ein rhetorisch, von Eskalation getragenes Vorgehen gewählt wurde. Offensichtlich sollte der Westen von einer Intervention in der Ukraine abgeschreckt werden. Abgesehen von den substanziellen Waffenlieferungen gelang dies auch.

Im Verlauf des Konfliktes waren mehrere eskalierende und deeskalierende Phasen in der russischen Rhetorik hinsichtlich des Einsatzes nuklearer Waffen zu bemerken. Die letzte bemerkenswerte Eskalation fand im Vorfeld der rechtswidrigen Volksabstimmungen und der politischen Annexion der Oblasten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson im September statt. Seither (Stand Dezember 2022) ist es wieder ruhiger um die Bedienung des nuklearen Narratives geworden.

Insgesamt lassen sich aus dem Beschriebenen zwei zentrale Folgerungen ableiten:

Erstens: Ein nuklearer Schutzschirm hält einem den Rücken frei. 

Die Russische Föderation ist ein Staat, der in seiner Wirtschaftsleistung mit Spanien vergleichbar ist und gerade einmal ein gutes Drittel der Wirtschaftsleistung Deutschlands besitzt. Nach Monaten eines verlustreichen Krieges verfügt die Russische Föderation über ein konventionelles militärisches Potenzial, das dem der NATO-Mitglieder haushoch unterlegen ist, wenn man die USA nicht einbezieht. Dennoch hat der Westen bisher davon abgesehen, weitreichende Munition wie die ballistische Kurzstreckenrakete Army Tactical Missile Systems (ATACAMS) für Raketenartilleriesysteme an die Ukraine zu liefern. Der Westen hat gänzlich von einer tatsächlichen militärischen Intervention aufseiten der Ukraine abgesehen. Was das betrifft, scheint das russische Spiel mit der Angst Wirkung zu zeigen.

Zweitens: Das Bestreben von Staaten wie Nordkorea oder dem Iran, Atomwaffen herzustellen bzw. solche zu besitzen, wird weiter zunehmen. Grund ist der Lerneffekt des unter „erstens“ Beschriebenen. Die Fähigkeit zu einer glaubwürdigen nuklearen Abschreckung ermöglicht einen Handlungsspielraum bei der Durchsetzung eigener strategischer Interessen, der sonst unvorstellbar wäre.

Bündnisse

Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass David gegen Goliath zumindest eine Chance hat. Aber nicht alleine. Ohne die westliche Unterstützung – und darüber sind sich nahezu alle Experten einig – hätte die Ukraine keine Aussicht gehabt, gegen die Russische Föderation zu bestehen. 

Der noch stärkere Wunsch der Ukraine, NATO-Mitglied zu werden und damit unter den – auch nuklearen – Schutzschirm der Allianz zu kommen, scheint aus diesem Gesichtspunkt mehr als verständlich. Als Antwort auf die widerrechtliche Annexion ukrainischen Territoriums hat die Ukraine am 30. September 2022 offensichtlich einen Antrag auf eine „beschleunigte Aufnahme“ in die NATO gestellt.

Aber auch in anderen Staaten an der nördlichen und östlichen Peripherie Europas gab es politisch und in der Bevölkerung breit getragene Neuorientierungen in der Sicherheitspolitik. Als unmittelbare Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende drastische Veränderung der Sicherheitslage in Europa, stellten die bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland Mitte Mai 2022 ihre Anträge auf Aufnahme in die NATO. In beiden Fällen ist der Wunsch nach kollektiver Sicherheit aufgrund der exponierten Lage und des russischen Vorgehens mehr als verständlich.

Krieg als „Whole of Government“-Angelegenheit 

Der Krieg in der Ukraine wird auf beiden Seiten unter Nutzung sämtlicher Machtmittel des Staates geführt. Die Widerstandsfähigkeit der Ukraine resultiert aus der Fähigkeit der Bündelung all dieser Instrumente auf ein gemeinsames strategisches Ziel: die Verhinderung der Auslöschung als souveräner Staat. Hierzu tragen neben den militärischen Leistungen die politisch diplomatischen Erfolge der Staatsführung genauso bei wie der geschickte Umgang mit der Information oder der Widerstandswille der Zivilbevölkerung. Die Verstaatlichung wesentlicher Energie- und Rüstungskonzerne Anfang November 2022 bewies auch die wirtschaftliche Ausrichtung auf die strategische Zielsetzung.

Der russische „Strategiewechsel“ im Oktober 2022, als man dazu überging, anstatt militärische Ziele die kritische Energieinfrastruktur der Ukraine binnen kürzester Zeit mittels Drohnen- und Raketenangriffen lahmzulegen, zeigt den umfassenden Ansatz eines Gegners zur Erreichung seiner Ziele: in diesem Fall über die kritische Verwundbarkeit der ukrainischen Gesellschaft.

Krieg bedeutet den Einsatz sämtlicher Machtmittel einer Partei gegen sämtliche funktionale Bereiche des Gegners. Der Gedanke der umfassenden Vorbereitung auf die Landesverteidigung, wie ihn Artikel 9a der Bundesverfassung als „Umfassende Landesverteidigung“ kennt, hat Berechtigung: Zur umfassenden Landesverteidigung gehören die militärische, die geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung.

Die doktrinäre und konzeptive Dimension 

In der doktrinären und konzeptiven Dimension lohnt sich eine Diskussion über das Verständnis von hybrider Kriegsführung, insbesondere über den Aspekt „unterhalb der Schwelle offener Gewalt“. Nach den jüngsten Ereignissen im Februar 2022 stellt sich die vorrangige Frage, ob die wahrscheinlichste oder die gefährlichste Bedrohung als Triebfeder für die Entwicklung von Streitkräften herangezogen werden soll.

Das Verständnis hybrider Konfliktaustragung

Ein nicht nur in Österreich lange weitverbreitetes Verständnis von hybrider Konfliktaustragung war es, dass sich diese grundsätzlich unterhalb der Schwelle des offenen bewaffneten Konfliktes abspielt.

Das österreichische Dokument „Trends & Konfliktbild 2030“ führt dazu aus, „dass bei einer hybriden Konfliktaustragung mehrere bis alle Machtmittel eines Akteurs unterhalb der Schwelle des bewaffneten Konflikts zur Zielerreichung eingesetzt werden“ (BMLV, 2018, p52).

Folgt man nun der gängigen Wahrnehmung, dass der Ansatz der Russischen Föderation im Krieg gegen die Ukraine (und in diesem Zusammenhang auch gegen Europa und die USA) seit 2014 und auch schon davor das klassische Modell der hybriden Konfliktaustragung ist, so legt es den folgenden Schluss nahe: 
„ … wer allerdings der Meinung war, dass hybride Konfliktführung lediglich unterhalb der Schwelle des konventionellen Krieges stattfindet, hat sich offensichtlich getäuscht“ (Hofbauer/Eder, 2022 p411).

Die einzig logische Folgerung daraus ist, dass es, sobald strategische Ziele ein offenes militärisches Engagement erfordern, zu offener Gewalt kommen wird. 

Daraus ergibt sich zwingend, dass die Annahme einer hybriden Bedrohung keine Entschuldigung für den Abbau konventioneller robuster militärischer Fähigkeiten sein kann. Die hybride Bedrohung macht die (umfassende) Landesverteidigung also nicht billiger, sondern teurer.

Most Likely versus Most Dangerous 

Die Streitkräfteentwicklung in den letzten Jahrzehnten erfolgte auf Basis jener Aufgaben, die aus den wahrscheinlichsten Szenarien abgleitet wurden. Filter waren hauptsächlich Eintrittswahrscheinlichkeit und Kosten. Die konventionellen Fähigkeiten von Streitkräften wurden auf sogenannte „Rekonstruktionskerne“ abgeschmolzen mit der Annahme, dass man für die Reaktion auf die gefährlichsten Szenarien Vorwarnzeiten hätte, um diese Fähigkeiten wieder qualitativ und quantitativ entsprechend aufzubauen.

Das damals gängige Verständnis des hybriden Konfliktes trug das Seine dazu bei, und Artilleriebataillone wurden sprichwörtlich gegen Fähigkeiten zur Cyberdefence eingetauscht. Die Bündnisverteidigung in der NATO in ihrem klassischen Verständnis der „Schichttorte“ (Durchmischung der Gefechtsstreifen mit den Streitkräften möglichst vieler NATO-Staaten, damit ein Angreifer sofort auf Soldaten verschiedener Mitgliedstaaten trifft; Anm.) an der NATO-Ostgrenze hatte längst ausgedient.

Der damalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte noch im September 2019 anlässlich eines Fernsehinterviews im Wahlkampf, dass der Panzerkampf im Weinviertel wohl nicht mehr das Zukunftsbedrohungsszenario wäre, er eine Erhöhung des nationalen Verteidigungsbudgets auf ein Prozent kategorisch ausschließe und er eher einen Reformbedarf beim Österreichischen Bundesheer sähe, wobei er den Begriff der Cyber-Sicherheit erwähnte (Die Presse, 2019).

Hofbauer/Eder führen dazu aus, „dass[,] wer nur kurzfristig einsatzwahrscheinliche Fälle berücksichtigt und zukünftige weniger wahrscheinlich beurteilte Entwicklungen außer Acht lässt[,] ein sehr hohes Risiko eingeht. Wenn man allerdings das gefährlichste Szenario in der Streitkräfteplanung berücksichtigt, dann sei man auch gegen alle weniger gefährlichen Möglichkeiten gewappnet“ (2022, p411).

Die Dimension der Fähigkeitsentwicklung 

Wenn man die militärische Ausrüstung betrachtet, die für Erfolge beider Seiten im Krieg ausschlaggebend war, könnte man sagen: Es geht um Drohnen, um weitreichende präzise Kampfunterstützung, um Luftabwehr und deren Unterdrückung sowie um mechanisierte Stoßkraft. Diese Liste ließe sich noch fortsetzen.

Ziel dieses Artikels ist es nicht, die Top 10 der militärischen Hardware zu beschreiben. Der Zugang soll über die national und international übliche Kategorisierung von Fähigkeiten in Fähigkeitsbereiche (Capability Areas) erfolgen.

In Österreich bilden sieben Fähigkeitsbereiche eine verbindliche Grundlage für die Streitkräfteentwicklung. Es sind dies Vorbereitung (Prepare), Projektion (Project), Wirkung (Engage), Durchhalten (Sustain), Führung (C3: Consult, Command & Control), Schutz (Protect) und Information (Inform).

Obwohl es sicher auch lohnend wäre, „Führung“ herauszugreifen, wird in diesem Artikel bewusst nur auf den Bereich „Vorbereitung – Prepare“ eingegangen, um Lehren für die Entwicklung von Streitkräften zu ziehen.

Prepare 

„Vorbereitung – Prepare“ umfasst nach dem nationalen Verständnis die Fähigkeit zur Streitkräfteplanung (inklusive Wissenschaft und Forschung), zur Streitkräftebereitstellung sowie zur Ausbildung und Übung in der allgemeinen Einsatzvorbereitung.

Eine erste Beurteilung des Konfliktes lässt den Schluss zu, dass die Streitkräfte beider Seiten auf diesen Krieg nicht vorbereitet waren. Damit ist gemeint, dass die Streitkräfte der Russischen Föderation offensichtlich keine – weder organisatorische, noch personelle, noch materielle –
Vorbereitungen für einen langandauernden Abnützungskrieg in der Ukraine trafen. In der Ukraine hatte beispielsweise trotz der sich aufbauenden Drohkulisse seit Herbst 2021 bis zu Kriegsbeginn keine Mobilmachung stattgefunden.

Die Streitkräfte der Russischen Föderation befanden sich zu Beginn des Krieges in der Ukraine bereits in einer länger andauernden Transformation. Die Normgliederung (Armee)-Division-Regiment-Bataillon war teilweise durch eine Brigadegliederung ersetzt und in Teilen wieder rückabgewickelt worden. Die „Stabilisierungseinsätze“ an der Peripherie des Staates hatten ein neues Konstrukt entstehen lassen, nämlich die sogenannte „Taktische Bataillonskampfgruppe“ – ein robuster, mobiler Eingreifverband mit einer starken organischen Kampfunterstützung; aus russischer Sicht jedenfalls geeignet, um in Stabilisierungsoperationen oder zur Niederschlagung von Aufständen eingesetzt zu werden. Bis Ende Februar hatte man etwa 120 dieser Bataillonskampfgruppen rund um die Ukraine stationiert.

Die ersten bekannten Auswertungen aus dem Krieg in der Ukraine legen den Schluss nahe, dass sich diese Bataillonskampfgruppen zwar für Stabilisierungseinsätze eignen mögen, im Gefecht mit einem konventionellen Gegner ihre Stärken aber nicht ausspielen können. Darüber hinaus wurde die Führungsspanne der oberen taktischen Führung durch die große Zahl dieser unabhängigen Gefechtsverbände erhöht. Ein Zusammenwirken zumindest in einem Brigadeverbund fand offensichtlich kaum oder nicht statt. Die klassische russische Stärke des taktischen Manövers großer Verbände unter dem Einsatz massiver Kampfunterstützung von der Ebene Division aufwärts konnte in den ersten Kriegsmonaten nicht zur Wirkung gebracht werden. Erst nach der operativen Pause im April 2022 und der Schwergewichtsverlagerung in den Donbas begann man – zumindest was das Zusammenspiel von Feuer und Bewegung betraf – auf „altbewährte“ Verfahren überzugehen. 

Eine zweite, ganz wesentliche Beobachtung im Bereich „Prepare“ ist, dass die russischen Streitkräfte weder personell noch logistisch auf einen länger andauernden Krieg eingestellt waren. Dies mag auch mit der irrigen Annahme, man würde in der Ukraine als Befreier begrüßt oder zumindest nicht bekämpft werden, in Zusammenhang stehen, stellt aber dennoch eine Nabelschau der militärstrategischen Streitkräftebereitstellung dar. Gegenüber den kolportierten Zahlen einer Präsenzstärke von bis zu 900.000 Soldaten dürften es eher nur um die knapp 200.000 einsatzbereite Soldaten gewesen sein. Man musste zu einer Mobilmachung von 300.000 Soldaten greifen, um ein aus strategischer Betrachtung nicht sonderlich großes Gefechtsfeld bedienen zu können. Die, verglichen mit westlichen Streitkräften schwach ausgeprägte, russische Militärlogistik der taktischen Führungsebenen war zwar zu Kriegsbeginn noch in der Lage, die grenznahe Angriffsführung zu unterstützen, stieß jedoch mit zunehmender Kriegsdauer und Tiefe immer mehr an ihren Kulminationspunkt. 

Es drängt sich die Annahme auf, dass ein Szenario, wie es sich in der Ukraine zumindest seit April 2022 darstellt, von den russischen Streitkräfte offensichtlich nicht geübt wurde oder aus entsprechenden Übungen keine Lehren in Bezug auf Organisation und Verfahren gezogen wurden.

Auf der ukrainischen Seite war man 2014 gegen die russische Invasion relativ wehrlos. Acht Jahre später zeigte sich, dass es trotz einer manifesten Bedrohungskulisse nicht gelungen war, Streitkräfte bereitzustellen, die einer ohnehin deutlich überschätzten russischen Streitmacht selbstständig und dauerhaft gewachsen wären. Natürlich könnte man nun mit einem Größenvergleich dagegen argumentieren, dennoch sind wesentliche Fähigkeitsdefizite im ukrainischen Inventar erkennbar, deren Reduzierung seit 2014 durchaus möglich gewesen wäre. Beispielhaft sei hier die Fähigkeitslücke im Bereich der weitreichenden präzisen Wirkung angesprochen. Es ist allgemein bekannt, welche großen Erfolge die ukrainischen Streitkräfte nach der Implementierung des amerikanischen High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) im Sommer 2022 gegen russische Führungseinrichtungen und logistische Knoten in der Tiefe des Gefechtsfeldes erzielen konnten. 

Klassisch würde man diesen Umstand der fehlenden weitreichenden Wirkmittel als militärstrategisches Versagen in der Bereitstellung von Fähigkeiten – also in der Capability Area „Prepare“ werten. Genaueres Hinsehen lässt aber den Schluss zu, dass es eher politisch-strategische europäische Entscheidungen waren, der Ukraine – mit Rücksicht auf Russland – diese Waffen nicht zu liefern und nicht militärstrategische Planungsfehler aufseiten der Ukraine. Der Effekt war allerdings derselbe.

Fazit 

Die Betrachtung des nunmehr seit über neun Monaten (Stand: Anfang Dezember 2022) in der Ukraine tobenden Krieges macht eines klar: Krieg ist weder berechenbar noch ist sein Verlauf vorhersehbar. Der „Nebel des Krieges“, von dem bereits Clausewitz sprach, stellt insbesondere für den Beobachter von außen oftmals ein unüberwindbares Hindernis dar.

Einige Schlussfolgerungen lassen sich aber dennoch mit großer Sicherheit treffen:

  • Nukleare Abschreckung wirkt. 
  • Wer unter hybrider Kriegsführung den Kampf unterhalb der Schwelle des offenen bewaffneten Konfliktes verstanden hat, lag falsch. Daher ist es umso verständlicher, dass Staaten an der Peripherie Mitteleuropas den Schutz eines Bündnisses suchen.
  • Das Opfern robuster militärischer Fähigkeiten auf dem Altar der Eintrittswahrscheinlichkeit war eine gefährliche Sackgasse.
  • Die Vorbereitung auf einen Krieg ist eine gesamtstaatliche Angelegenheit, genauso wie die Kriegsführung. Hier kommt der Aspekt der „Comprehensiveness“ oder eben der Hybridität wieder zum Tragen, wenn sämtliche Machtmittel des Staates koordiniert und synchronisiert zur Erreichung der jeweiligen Ziele zum Einsatz gebracht werden.
  • Um strategische Ziele umsetzen zu können, ist das Machtmittel Militär für die ihm zugedachte Rolle bereitzustellen und vorzubereiten: „Train as you fight“. 

ObstdG Mag. Berthold Sandtner; Referatsleiter, ist Hauptlehroffizier und Forscher für Führungslehre.

 

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