- Veröffentlichungsdatum : 15.07.2022
- – Letztes Update : 14.07.2022
- 10 Min -
- 2045 Wörter
- - 9 Bilder
Nuklear-Blackout
Seit ihrem Ersteinsatz im Jahr 1945 haben neun Staaten Nuklearwaffen entwickelt und verbessert. Sie entfalten ihre massiv-zerstörerischen Effekte durch Hitze, Druck und Strahlung. Die zivile sowie militärische Abhängigkeit von elektronischen Systemen rückt einen „Nebeneffekt“ in den Vordergrund: Die potenzielle Gefahr eines weitreichenden Blackouts durch einen nuklearen elektromagnetischen Impuls.
Mit Beginn des Ukraine-Krieges erhöhte Russland Ende Februar 2022 die Bereitschaft seiner „Abschreckungskräfte“ auf Stufe 2 von 4 möglichen Stufen. Das nährte Mutmaßungen, dass es zum Einsatz von Nuklearwaffen kommen könnte. Was lange Zeit undenkbar war, wurde plötzlich zur realen Möglichkeit. Darum ist es notwendig, sich wieder verstärkt mit den Folgen einer nuklearen Eskalation auseinanderzusetzen bzw. diesen vorzubeugen.
Eine Kernwaffendetonation löst verschiedene Effekte aus. Den größten Energieanteil einer Atombombe liefert der Druck (etwa 50 Prozent), gefolgt von der thermischen Strahlung (35 Prozent), der Anfangsstrahlung während der Kernspaltungsreaktion (fünf Prozent) und der Rückstandsstrahlung durch den radioaktiven Niederschlag (zehn Prozent). In diesem Beitrag liegt der Fokus aber auf einem Effekt, der weniger als ein Prozent des Energieanteiles ausmacht - dem nuklearinduzierten elektromagnetischen Impuls (NEMP). Bei richtiger Anwendung erzielt er die flächenmäßig größte Wirkung. Ein weiterer „Vorteil“ ist sein schlagartiges Auftreten. Innerhalb von Nanosekunden (Milliardstel-Sekunden; Anm.) deponiert er seine Energie in Form eines starken elektrischen und magnetischen Feldes in Strom- und Telefonleitungen, Steuersystemen sowie in Computern, Servern oder Smartphones.
Auch wenn der NEMP keine unmittelbare und direkte Gefahr für die Truppe oder die Gesundheit der Soldaten ist, sollte man diesen in der Ausbildung von Soldaten mehr berücksichtigen. Ein NEMP kann durch den Ausfall wichtiger Komponenten, wie Kommunikationsgeräte und elektronische Überwachungssysteme, den Gegner „erblinden“ lassen und diesen leichter verwundbar machen.
Geschichtlicher Hintergrund
Schon vor der Zündung der ersten Nuklearwaffen war klar, dass es bei der Detonation einer Atombombe zu einem starken elektromagnetischen Impuls kommt, der ungeschützte elektrische Leitungen und Geräte beschädigen kann. Zwischen 1958 und 1962 begannen sowohl die USA als auch die Sowjetunion, die Ursachen und Effekte des NEMP zu erforschen. Dazu wurden mehrere Kernwaffenversuche in Detonationshöhen zwischen 80 und 550 Kilometern durchgeführt. Als bekannte Tests gelten „Starfish Prime“ über dem Johnston-Atoll (1.150 Kilometer südlich von Hawaii) und „Projekt K“ mit dem Test #184 in Kasachstan. Beim Versuch der USA bildete sich eine Aurora (polarlichtähnliche Effekte in der ionisierten Atmosphäre; Anm.) über dem Atoll, die bis Honolulu sichtbar war.
Die Messdaten des NEMP-Versuches sind nicht öffentlich zugänglich, dennoch weiß man, dass 300 Straßenlampen in einer Entfernung von 1.300 Kilometern beschädigt wurden. Später stellte sich heraus, dass auch sieben Satelliten zerstört worden waren. Der Test in Kasachstan wurde unter ähnlichen Bedingungen durchgeführt, zeigte aber ein größeres Zerstörungspotenzial bei der bodennahen Infrastruktur. Die Daten zum Test wurden 1991 veröffentlicht. Für den Versuch wurde eine Telefonleitung 500 Kilometer entfernt vom Nullpunkt (auf die Erdoberfläche projizierter Detonationspunkt; Anm.) mit Sicherungen und Überschlagschutzschaltungen bestückt. Gemessen wurden durch den NEMP induzierte Stromstärken von 1.500 bis 3.400 Ampere, die alle Sicherungen und Schutzanlagen zerstörten. Auch ein Kraftwerk in 1.000 Kilometern Entfernung nahm Schaden, da man die Effekte auf eine unterirdische Stromleitung unterschätzt hatte.
Das Aus für weitere NEMP-Testreihen kam 1963. In diesem Jahr trat der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser in Kraft. Unterzeichnet wurde er von der Sowjetunion, den USA und Großbritannien. Dennoch zeigten die wenigen durchgeführten Versuche davor das NEMP-Potenzial einer Nukleardetonation in großen Höhen.
Auswirkungen des NEMP
Die hohen elektrischen und magnetischen Feldstärken eines NEMP haben eine Auswirkung auf alle ungeschützen Leitungen. Es kommt zu hohen Stromstärken, Überspannung und Spannungsüberschlägen zwischen Leitern – wie Strom- und Telefonleitungen. In Leitungen von Hochspannungssystemen können durch einen nuklearen elektromagnetischen Impuls Ströme bis zu 12 kA induziert werden – ein Vielfaches der Auslegung von Leitungen und Isolatoren. Die hohen Spannungen und Stromstärken belasten die elektronischen Bauteile und Leiterplatten thermisch. Infolgedessen gehen sie unter Hitze- und Rauchentwicklung sichtbar kaputt – ähnlich wie bei einem Blitzeinschlag. Durch entsprechende Schutzmaßnahmen, wie Metallgehäuse (Faraday’scher Käfig) und spezielle Diodenschaltungen an den Ein- und Ausgängen, können viele elektrische Geräte geschützt werden. Diese Technologien sind zwar seit Jahrzehnten bekannt, schützen jedoch nur teilweise gegen einen NEMP.
Ein zeitlicher Vergleich der Feldstärken zeigt, dass ein solcher Impuls seine maximale Amplitude signifikant schneller erreicht als ein Blitz. Somit reicht die Standard-Schutzelektronik mit Schaltzeiten von Mikrosekunden nicht aus. Bei Gegenständen, die durch ihre Metallumhüllung einem Faraday‘schen Käfig entsprechen, kann ein elektrisches Feld von außen nicht eindringen. Daher kann innenliegende Elektronik nicht durch einen NEMP ge- oder zerstört werden. Meist gibt es jedoch einen Schwachpunkt – wie Antennen oder externe Strom- bzw. Signal-Eingänge. Der breitbandige NEMP umfasst alle gängigen Kommunikationsfrequenzen und kann seine hohe Energie somit über eine Antenne in das abgeschirmte Innere einer Anlage deponieren. Heutzutage ist es möglich, durch schnelle Schaltelektronik die interne Geräteelektronik in Nanosekunden von elektronischen Überlasten zu trennen. Die Frage ist nur, ob die entsprechenden Geräte im Notfall tatsächlich dafür ausgerüstet sind. Auch wenn der Einsatz von Nuklearwaffen in den vergangenen Jahren unwahrscheinlich war, ist z. B. die Lagerung von elektrischen Geräten in Metallboxen kein Fehler.
Anwendung des NEMP
Ein NEMP mit interkontinentalen Erstschlagwaffen könnte im Vorfeld eines militärischen Angriffes verursacht werden, um die gegnerische Frühwarn- und Fernmeldeeinrichtungen sowie Logistik- und Datenverarbeitungszentren außer Betrieb zu setzen. Die Betonung liegt dabei auf interkontinental – was eine gewisse Entfernung zum eigenen Staat bzw. Bündnis voraussetzt. In einem Konflikt zwischen Nachbarstaaten ist der Einsatz einer NEMP-Waffe nicht ratsam, da sie Wirkradien von mehreren tausend Kilometern erreichen können und somit die reale Gefahr besteht, dass ein Angreifer seine eigene Infrastruktur zerstört. So würden die hohen Feldstärken eines Exo-NEMP (außeratmosphärische Detonation; Anm.) über Kiew selbst bei geringer Detonationshöhe (100 km) bis Moskau reichen.
Auch wenn der Einsatz einer NEMP-Waffe hauptsächlich den Gegner am Gegenschlag oder am Führen des Krieges hindern soll, wird damit der gesamte gegnerische Staat geschädigt. Im zivilen Bereich gibt es keinen ausreichenden Schutz gegen den NEMP, gleichzeitig besteht eine hohe Abhängigkeit von elektrischer und elektronischer Infrastruktur. Im schlimmsten Fall heißt das: Blackout! Nichts geht mehr.
Entstehung eines NEMP
Um die genauen Vorgänge hinter der Entstehung eines NEMP zu verstehen, benötigt man Wissen aus der Kernphysik, Elektrodynamik, Geophysik und Elektronik. Vereinfacht können die Effekte wie folgt dargestellt werden:
Seine volle Wirkung entfaltet der NEMP, wenn die Nuklearwaffe weit außerhalb der Atmosphäre detoniert. Exo-NEMP zünden in einer Höhe von 100 bis 500 Kilometern. Sie eignen sich zur Erklärung der hohen Feldstärken unter Betrachtung physikalisch relevanter Wechselwirkungen wie dem Compton-Effekt (die Vergrößerung der Wellenlänge eines Photons bei der Streuung an einem Teilchen; Anm.) und der Physik bewegter Ladungsträger sowie der Elektrodynamik. Prinzipiell lässt sich der zeitliche Verlauf eines nuklearen elektromagnetischen Impulses in drei Phasen gliedern. Die erste Phase ist die wichtigste. Sie ist auch für die hohen Feldstärken verantwortlich. Die Phasen zwei und drei bestehen aus dem Abklingen des Impulses gemischt mit Sekundäreffekten.
Phase 1
In der ersten Phase wird durch die Detonation einer Nuklearwaffe schlagartig hochenergetische Gammastrahlung freigesetzt. Sie besitzt 0,5 Prozent der Energie der Sprengkraft und bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit radial vom Detonationspunkt weg. Jener Teil, der in Richtung Erdoberfläche unterwegs ist, trifft in einer Höhe von 20 bis 40 Kilometern auf einen wesentlich dichteren Bereich der Atmosphäre. In dieser sogenannten Quellregion kann die Gammastrahlung mit den Atomen und Molekülen der Luft in Form des Compton-Effektes wechselwirken. Dabei interagiert die Strahlung mit den Elektronen der Atomhüllen, die aus dem Atomverband gerissen und mit hoher kinetischer Energie belegt werden. Die Bewegungsrichtung entspricht größtenteils der Richtung der eintreffenden Gammastrahlung. Somit wird schlagartig eine enorme Menge (23-stellige Zahl) an Elektronen freigesetzt, die sich mit 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit Richtung Erde bewegen. Zurück bleiben positiv geladene Atome und Moleküle. Zwischen jedem Elektron und seinem zurückgelassenen positiven Ion bildet sich ein elektrisches Feld. Die Summe aus diesen Prozessen führt zur Ausbildung eines großen elektrischen Dipols (zueinander entgegengesetzte Ladungen; Anm.) mit einer hohen Feldstärke in radialer Richtung zur Erde. Ein weiterer Effekt von bewegten Ladungsträgern ist die Ausbildung eines magnetischen Feldes. Zusammen bilden die beiden Felder einen elektromagnetischen Impuls, der innerhalb von Nanosekunden zur vollen Stärke an- und dann in weniger als einer Mikrosekunde wieder abschwillt.
Hierbei ist auch das Erdmagnetfeld zu berücksichtigen, das den bewegten Elektronen eine Zusatzkraft aufzwingt und dafür sorgt, dass sie sich für kurze Zeit in einer korkenzieherähnlichen Bahn bewegen. Durch diese kreisförmigen Bewegungen der Elektronen ist auch der magnetische Dipol zur Erde gerichtet. Zusätzlich zu den hohen Feldstärken kommt es durch die hochenergetischen Elektronen aus den Compton-Streuungen zu einem Ionisationseffekt der Atmosphäre. Jedes Elektron produziert auf seiner Flugbahn durch die Luft ungefähr 10 000 Elektronen-Ionen-Paare. In der ionisierten Atmosphäre kommt es zu polarlichtähnlichen Effekten (Aurora). Die erzeugten Sekundärelektronen lagern sich in weiterer Folge an den Luftmolekülen an und es kommt zu Aufspaltungen in andere Molekülstrukturen.
Phase 2
In der darauffolgenden zweiten Phase liefern die gestreute Gammastrahlung des Compton-Effektes und die neutroneninduzierte Gammastrahlung einen zusätzlichen EMP mit der Impulsdauer von einer Nanosekunde bis zu einer Sekunde. Dieser weist Ähnlichkeit zu einem Blitz-EMP auf. Neutroneninduzierte Gammastrahlung entsteht durch Absorption eines Neutrons (aus den Kernspaltungen) in einen Atomkern mit anschließender Kernumwandlung und Zerfall unter Abgabe von Gammastrahlung.
Phase 3
Auch in der dritten Phase wird ein messbarer Beitrag zum NEMP geleistet, der bis zu 100 Sekunden dauern kann. Dieser Impuls spiegelt die kurzfristige Verformung des Erdmagnetfeldes wider, die durch die Detonation ausgelöst wurde. Diese Phase ist einem Solar-EMP aus dem geomagnetischen Sturm einer Sonneneruption ähnlich. Die Beiträge aus den Phasen zwei und drei verändern nur das Abklingverhalten des Primärimpulses. Die Gesamtimpulsdauer verlängert sich deutlich in den Sekundenbereich, jedoch nur mit zusätzlichen Impulsbeiträgen, die um Potenzen kleiner sind als die erste Phase.
NEMP aus atmosphärischer oder bodennaher Detonation
Auf Basis der Beschreibung der Exo-NEMP können die Effekte der atmosphärischen und bodennahen Detonationen erklärt werden. Beim interatmosphärischen NEMP (Endo-NEMP) wird die Gammastrahlung unmittelbar nach der Detonation in der Atmosphäre abgeschwächt. Die Quellregion ist eine Kugel mit einem Durchmesser von wenigen Kilometern, bei der ein auf- und abwärts gerichtetes Feld entsteht, das sich größtenteils aufhebt. Aus diesem Grund sind die Folgen eines Endo-NEMP wesentlich schwächer als die eines Exo-NEMP.
Der NEMP aus einer Bodenexplosion oder einer in Bodennähe wird in der Quellregion in Form einer Halbkugel mit zwei bis drei Kilometer Radius erzeugt. Auch hier schwächt die Atmosphäre die Gammastrahlung direkt nach der Detonation ab. Das Erdreich dient als Leiter für die Elektronen des Compton-Stroms, die zum Detonationspunkt zurückwandern. Es entsteht ein nach oben gerichteter Dipol. Die Feldstärken außerhalb der Quellregion sind vernachlässigbar, während die hohen Feldstärken in der Quellregion aufgrund der zerstörerischen Wirkung von Hitze, Strahlung und Druck nur mehr eine unbedeutende Rolle spielen.
Optimierung des NEMP
Drei Parameter steigern die NEMP-Effekte: stärkere Sprengkraft, die Detonationshöhe und das inhomogene Erdmagnetfeld. Spaltbomben werden mit einer Sprengkraft von bis zu wenigen 100 kt (Kilotonnen) TNT-Äquivalent (Einheit für die Sprengkraft unter anderem von Kernwaffen; Anm.) gebaut, Wasserstoffbomben erreichen eine höhere Sprengkraft. Der hohe Druck und die hohen Temperaturen für die darin stattfindende Kernfusion werden immer über eine Spaltbombe (Fission) initiiert. Um Druck und Temperatur kurzzeitig von der Spalt- auf die Fusionsbombe zu übertragen, sind beide in ein dickes Urangehäuse eingebaut. Dieses absorbiert bis zu 95 Prozent der entstehenden Gammastrahlung. Mit einer zusätzlichen Vor-Ionisierung der Atmosphäre durch die Spaltbombe ist die Steigerung des NEMP-Effektes gering. Daher sind Spaltbomben gleicher oder geringerer Sprengkraft hinsichtlich des NEMP effizienter als Fusionsbomben. Testserien haben ergeben, dass bereits eine 10 kt Spaltbombe 40 Prozent der NEMP-Effektivität einer Wasserstoffbombe mit 1 440 kt (1,44 Mt) erreicht. Um einen ausgeprägten Detonationshorizont mit der Hälfte der maximalen elektrischen Spitzenfeldstärke zu erreichen, müssen Exo-NEMP eine Sprengkraft von mehreren 10 kt aufweisen. Die effektivste Variante ist somit der Exo-NEMP mit einer Detonationshöhe von 100 bis 500 Kilometern. Dabei gilt: Je höher der Detonationspunkt, desto größer ist die Bodenfläche mit erhöhten elektromagnetischen Feldstärken.
Das Erdmagnetfeld kann man sich wie einen Stabmagneten vorstellen, der an den Enden (entspricht ungefähr den Polen der Erde) eine höhere Dichte an Magnetlinien aufweist. Daher ist die Effektivität eines NEMP auch vom Breitengrad abhängig. Die Variation im Erdmagnetfeld wird durch den Geomagnetismus, ausgelöst durch kontinentale Erzlagerstätten, hervorgerufen. Vergleicht man zwei NEMP mit gleicher Detonationsstärke, Höhe und Breitengrad – so ist jener, der über dem Kontinent entsteht, stärker ausgeprägt als ein ozeanischer. Das Schadensgebiet eines NEMP wird meist durch Kreise mit Radien von hunderten Kilometern angegeben, ohne dabei auf unterschiedliche Feldstärkeschwankungen einzugehen. Die Simulation der elektrischen Spitzenfeldstärke, in dem das Erdmagnetfeld um einen gewissen Breitegrad miteinberechnet wird, zeigt ein viel komplexeres Muster mit Kurven gleicher Impulshöhe.
Major dhmtD Dipl.-Ing. Michael Schrenk; Referatsleiter Grundlagen (Physik) am ABC-Abwehrzentrum.