Patt an der Front: Ukraine-Krieg - Status quo
Das zweite Jahr des Ukraine-Krieges ist zu Ende. 2023 war vor allem durch die ukrainische Frühjahrsoffensive geprägt, die nicht den gewünschten Erfolg erzielt hat. Aktuell gibt es eine Patt-Situation. Wie kam es zu dieser? Wie kann der Krieg weitergehen?
Bevor die aktuelle Situation analysiert wird, macht es Sinn, auf den Beginn der ukrainischen Offensive Anfang Juni 2023 zurückzublicken. Die vermutete Absicht der Ukraine war es, mit einem zentralen Stoß zum Asowschen Meer zu gelangen und die russisch besetzten Gebiete in zwei Hälften zu teilen. Konkret in die Räume Donezk bzw. Saporischschja und Cherson mit einer Unterbrechung der zentralen Versorgungslinien, erstens die Brücke über die Straße von Kertsch und zweitens die Landlinie Richtung Südwesten, um die russischen Kräfte im Süden der Ukraine zu isolieren und Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Dazu hat die Ukraine wesentliche Kräfte zusammengezogen und mit westlichen Waffensystemen ausgestattet, zum Beispiel mit Kampfpanzern „Leopard“ und Schützenpanzern „Bradley“. Die Idee des Gefechtes war es, die Russen mit Ablenkungsangriffen im Nordosten zu zwingen, Reserven dorthin zu verlegen. Danach wurde im Süden versucht, den Dnjepr zu übersetzen, und dann sollte der Hauptstoß an drei zentralen Stellen erfolgen.
Die Ablenkung und der Versuch der Zerstörung der Brücke über die Straße von Kertsch waren nur zum Teil erfolgreich. Der Ansatz im Süden hat zudem, aufgrund der Sprengung des Nova-Kachowka-Staudammes, nicht funktioniert. Der Angriff an drei zentralen Stellen, erstens im Raum Bakhmut, zweitens nördlich von Mariupol und drittens nördlich von Melitopol wurde jedoch durchgeführt. Die große Hoffnung war, dass die aus dem Westen gelieferten Waffensysteme die Entscheidung bringen könnten. Tatsächlich hat der Angriff aber einen anderen Verlauf genommen. So liefen die ukrainischen Streitkräfte ab dem 4. Juni in ein tiefgestaffeltes russisches Verteidigungssystem, weshalb umfangreiche Angriffsoperationen bereits nach vier Tagen beendet werden mussten.
Niederhalten, Verbergen, Sichern, Reduzieren
Wie der ukrainische Angriff scheiterte, zeigen zahlreiche Videos. Auf einem sind zerstörte Panzer der 47. mechanisierten Brigade nördlich von Tokmak zu sehen. Diese versuchten hinter Minenräumgeräten die russischen Stellungen anzugreifen, blieben aber im Feuer russischer Kampfhubschrauber liegen, die aus einer Distanz von bis zu zehn Kilometer wirkten. Wenn man sich Aufnahmen wie diese ansieht, kann man erkennen, was gut und was schlecht funktioniert hat, und daraus ableiten, was sich in den ersten Stunden des Angriffes tatsächlich ereignet hat. Als Analysegrundlage dient eine Vorschrift der U.S. Army (FM 3-34.2 „Combined Arms Breaching Operations“), die eine derartige komplexe „Breaching Operation“, also den Stoß durch gegnerische Verteidigungsanlagen, beschreibt. Im Kern besteht diese aus den Phasen „Suppress“ (Niederhalten), „Obscure“ (Verbergen), „Secure“ (Sichern) und „Reduce“ (Reduzieren). Hinzu kommt zum Abschluss der Angriff („Attack“). Das sind jene Phasen, anhand derer die US-Vorschrift genau beschreibt, was zu berücksichtigen ist und welche Fähigkeiten notwendig sind, um einen komplexen Angriff durchzuführen.
Beim Niederhalten soll der Gegner so wirkungsvoll mit Feuer bekämpft werden, dass er seine Waffen und Systeme an der intendierten Einbruchsstelle nicht zur Wirkung bringen kann. Das ist die Voraussetzung, damit sich die eigenen Kräfte bewegen und in weiterer Folge die Verteidigungsstellungen des Gegners durchbrechen können. Das hat im vorliegenden Fall nicht funktioniert, da die russischen Kräfte den ukrainischen Truppen bereits am Beginn schwerste Verluste zufügen konnten, wodurch der Angriff schließlich liegen blieb.
Durch das Verbergen soll dem Gegner die Sicht auf die eigenen Kräfte genommen werden, damit diese ihre Tätigkeit, also z. B. das Durchbrechen oder das Räumen von Minen, erfüllen können. Das hat nur zum Teil funktioniert. Es gab zwar den Einsatz von Nebel, jedoch wurden nur etwa drei Prozent der eingesetzten Granaten für das Blenden verwendet. Das war offensichtlich zu wenig, um diesen Grundsatz ausreichend zu erfüllen.
Durch das Sichern soll verhindert werden, dass der Gegner seine Reserven an der erkannten bzw. vermuteten Durchbruchstelle der eigenen Kräfte zum Einsatz bringt. Dabei gilt es, die Einbruchstelle abzuriegeln und zu verhindern, dass der Gegner wirksam werden kann. Das hat nur zum Teil funktioniert. Vor allem die beweglichen russischen Panzerlenkwaffentrupps konnten den ukrainischen Kräften, nach dem Einsatz der russischen Kampfhubschrauber, weitere schmerzhafte Verluste zufügen.
Beim Reduzieren sollen die physischen Hindernisse, die der Gegner „ins Gelände gelegt hat“, beseitigt werden. Das heißt, Minenfelder räumen, Panzergräben überschreiten, Drachenzähne auf die Seite schieben oder Stacheldraht durchschneiden. Das hat nicht funktioniert, da beispielsweise Minenfelder nicht die Tiefe von 120 m hatten, wie es „das Lehrbuch“ vorsieht, sondern bis zu 500 m.
Nachdem diese vier grundsätzlichen Fähigkeiten nicht erfüllt waren, der Gegner nicht niedergehalten wurde, eigene Kräfte sowie die Einbruchstelle nicht verborgen waren, oder das gegnerische Verteidigungsdispositiv durch den Einsatz von Räumkräften kaum verringert war, konnte keine erfolgversprechende Angriffsoperation durchgeführt werden. Der Angriff, der an drei Stellen vorgetragen wurde, scheiterte schließlich nördlich von Melitopol, Mariupol und bei Bakhmut.
Operation Cobra
Bei der Betrachtung der bisherigen Offensive drängt sich ein historisches Beispiel auf, das eine erfolgreiche Operation beschreibt, den alliierten Durchbruch in der Normandie im Juli 1944, die Operation COBRA. Hier haben es die US-Streitkräfte geschafft, aus den Lande- und Brückenköpfen auszubrechen und die deutschen Kräfte schlussendlich einzukesseln und zu vernichten. Der entscheidende Unterschied von damals zu heute ist, dass zu Beginn dieser Offensive die US-Kräfte mit massivem Einsatz von Luftunterstützung und Flächenbombardements in einem definierten Raum, die deutsche Verteidigung so weit schwächte, dass drei US-Panzerdivisionen durchbrechen konnten. Diese Vorbereitung hat am Beginn der ukrainischen Offensive gefehlt. Das trug wesentlich dazu bei, dass diese im Vergleich zu dem Beispiel aus dem Sommer 1944 nicht erfolgreich war.
Während auf der ukrainischen Seite die Ergebnisse der Offensive mit großer Ernüchterung aufgenommen wurden, hatte auf der russischen Seite die erfolgreiche Abwehr einen entscheidenden Einfluss auf die Moral ihrer Soldaten. Die russische Propaganda versucht an die Narrative des Großen Vaterländischen Krieges, wie der Zweite Weltkrieg (konkret die Periode zwischen 1941 und 1945) in Russland genannt wird, anzuknüpfen. Das zeigt sich auch an den unterschiedlichen historischen propagandistischen bildlichen Darstellungen, zum Beispiel die Heroisierung eines sowjetischen Soldaten, der erfolgreich gegen einen deutschen „Tiger“-Panzer kämpft. Diese Darstellung gibt es heute wieder. Sie zeigt, wie ein russischer Soldat einen deutschen „Leopard“ oder einen US-„Bradley“ bekämpft.
Gelände
Im Zusammenhang mit den bisherigen Ausführungen gilt es, das Gelände zu betrachten, konkret welche Fähigkeiten auf beiden Seiten verfügbar waren bzw. gefehlt haben, um dieses für den Kampf vorzubereiten. Die Russen hatten sechs bis sieben Monate Zeit, um sich einzurichten und ihre Verteidigungsanlagen auszubauen. Sie haben eine Kombination von physischen, ins Gelände gelegten Verteidigungseinrichtungen wie Minenfelder, Stacheldraht, Drachenzähne etc. errichtet. Dazu kamen Kräfte, die man bereitgehalten hat, wie mobile mechanisierte Reserven, aber auch Panzerlenkwaffentrupps oder Störsysteme zum Beherrschen des elektronischen Feldes, Artillerie in der Tiefe und Luftmittel wie Kampfhubschrauber, die aus einer sicheren Distanz wirken konnten, Erdkampfflugzeuge, sowie Drohnen als Aufklärungs- und Angriffsmittel (vor allem First-Person-View-Drohnen) kamen zum Einsatz.
Die ukrainische Seite hatte spezielles Gerät zur Verfügung, um den russischen Verteidigungskräften entgegenzutreten. So gab es Räummittel in begrenzter Menge und kampfkräftige Verbände mit modernen Kampf- und Kampfschützenpanzern. Es war jedoch zu wenig Kampfunterstützung und kaum Luftunterstützung verfügbar. Vor allem die Luftunterstützung wäre essenziell gewesen, denn mit dieser hätte man die russischen Kräfte so weit abnützen können, um den Stoß durchzuführen. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass weitreichende Artillerie vorhanden war, aber nicht in ausreichender Menge. Es gab zwar den Einsatz des High Mobility Artillery Rocket Systems (HIMARS) und Rohrartillerie, aber die wichtigen Army Tactical Missiles (ATACMS) haben gefehlt.
Wenn man das Ergebnis der ukrainischen Offensive im Gelände betrachtet, kann man erkennen, dass am Beginn taktische Erfolge erreicht wurden. Einige Ortschaften, die auch wichtige Stützpunkte in der ersten russischen Verteidigungslinie waren, wurden in Besitz genommen. Der Vorstoß war an vielen Stellen jedoch nur wenige Kilometer tief, z. B. nördlich von Tokmak bzw. nördlich von Melitopol. Dort ist es zwar gelungen, Robotyne in Besitz zu nehmen, weiter Richtung Verbowe vorzustoßen und die ersten Linien zu durchbrechen, dann blieb der Angriff aber liegen.
Man erkennt die gesamte Dimension erst, wenn man das Gelände im Ganzen betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die Vorstöße von knapp acht bis zwölf Kilometern zu gering waren, vor allem im Vergleich zu den mehr als 100 Kilometern, die man gebraucht hätte, um die Angriffsoperation erfolgreich abzuschließen. In allen Angriffsstreifen, also nördlich von Tokmak und Melitopol, nördlich von Berdjansk und Mariupol und am Rande von Bakhmut, hat sich dieses Bild im Prinzip wiederholt.
Die Russen haben ihre Verteidigungsanlagen nach einem ausgeklügelten System angelegt. Es gibt eine Gefechtsvorpostenlinie, dahinter tiefgestaffelte Stellungssysteme, zum Teil parallel in die Tiefe gelegt, und schließlich die unmittelbare Befestigung wichtiger Ortschaften oder Städte. Die ukrainische Seite konnte an einigen Stellen die Gefechtsvorpostenlinie durchbrechen und den „Fuß in die Türe stellen“. Zwischen Robotyne und Verbowe konnte sie in die erste Verteidigungslinie zwar einbrechen, diese aber nicht durchstoßen.
Angriff, aber wo?
Im Zusammenhang mit den bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten den ukrainischen Streitkräften gefehlt haben. Die Antwort ist, dass diverse Fähigkeiten nicht oder in zu geringer Quantität und Qualität verfügbar waren. Das gilt für die bereits erwähnten Systeme, die in die Tiefe wirken können. So war der Ukraine die Lieferung von Ground Launch Small Diameter Bombs (GLSDB) zugesagt worden. Diese stehen bis dato nicht zur Verfügung, sollen jedoch 2024 geliefert werden. Luft-Boden-Waffensysteme, wie jene vom Typ „Storm Shadow“ oder „Scalp“ waren zwar in ausreichender Quantität und Qualität vorhanden, die nötigen Plattformen gab es aber nicht in ausreichender Anzahl. Die Ukraine hat zwar Su-24M-Maschinen für diese Aufgabe umgebaut, jedoch zu wenige. Zusätzlich dürften die zwölf Brigaden der Offensive, darunter neun mit westlichem Gerät ausgestattete, nicht über den nötigen Ausbildungsstand verfügt haben, um einen Durchbruch erzielen zu können.
In den US-Medien wurde im Frühherbst 2023 die Planung der Frühjahrs-offensive stark kritisiert. US-Berater hatten einen Angriff an einer zentralen Stelle favorisiert, nördlich von Melitopol bzw. Tokmak. Die Ukraine wollte jedoch an drei Stellen angreifen, bei Bakhmut, nördlich von Mariupol und bei Melitopol, wodurch ihre Angriffskräfte – aus US-Sicht – zersplittert wurden.
Nachdem die Ukraine erkannt hatte, dass ihr Ansatz nicht funktioniert, musste sie einen Gefechtstechnik- und Taktikwechsel durchführen. Um diesen zu verstehen ist es notwendig, erneut das Gelände zu betrachten. Dieses ist in der Süd- und Ostukraine überwiegend flach mit taktisch zusammengehörigen Geländeteilen, die aus großen Getreidefeldern bestehen, die durch Baumreihen getrennt sind. Die ukrainischen Kräfte haben zuerst versucht, mit mechanisierten Verbänden von einem Feld ins nächste zu ziehen – vergleichbar mit einem Zug auf einem Schachbrett. Dabei wurden sie von den Russen mit einem Mix aus Kampfhubschraubern, Panzerabwehrlenkwaffentrupps, Minenfeldern und anderen Systemen wie Kamikaze-Drohnen abgewehrt. Nach dem Gefechtstechnik- und Taktikwechsel wurden kleinere Angriffsgruppen gebildet. Diese haben vor allem versucht, in den die Felder trennenden Windschutzgürtel vorzustoßen, um von dort von einem Feld in das andere wirken zu können. Das hat funktioniert, aber es war verlustreich und langsam, mit oft nur wenigen hundert Metern Geländegewinn in der Woche.
Ein Blick auf die Karte zeigt die Ergebnisse der knapp 200 Tage dauernden ukrainischen Offensive auf der strategischen Ebene von beiden Seiten. Die Ukraine konnte nördlich der Stadt Tokmak bzw. Melitopol acht bis zehn Kilometer in die Tiefe vorstoßen, ostwärts davon zehn bis zwölf Kilometer nördlich von Berdjansk sowie Mariupol und bei Bakhmut nördlich bzw. südlich angreifen. In dieser Zeit hat Russland ebenfalls versucht, Geländegewinne zu erzielen, was ebenfalls kaum gelang. Das strategische Ziel der Ukraine, die Russen durch das Trennen der russisch besetzten Gebiete an den Verhandlungstisch zu zwingen, konnte nicht erreicht werden. Vielmehr wurden die Brigaden der Offensive so stark abgenützt, dass man sie herausziehen musste, um sie an anderen Stellen der Front einzusetzen.
Unterschätzter Gegner
Das bisherige Narrativ, dass der russische Soldat nicht in der Lage sei, einen Kampf zu führen und sein Kampfwert gering wäre, muss spätestens jetzt überdacht werden. Schließlich haben es die russischen Streitkräfte nach einer entsprechenden Vorbereitungsphase geschafft, die ukrainische Offensive abzuwehren. Dieses Narrativ zeigt einen der größten Fehler, der in einem Kampf passieren kann: das Unterschätzen des Gegners.
Der Einsatz der russischen Streitkräfte war effizient gegen die ukrainischen Streitkräfte, ihre mechanisierten Verbände, ihre Drohnen sowie ihre Luft-Boden- oder Boden-Boden-Waffensysteme. Beispiele dafür sind die „Storm Shadow“ oder das vom M-142 HIMARS eingesetzte Guided Multiple Launch Rocket System (GMLRS), ein Boden-Boden-Raketensystem. Tatsächlich gelingt es den Russen, diese Raketen in immer größerer Zahl abzuschießen. Darüber hinaus können sich die russischen Kräfte anpassen und mit einfachen Möglichkeiten große Erfolge erzielen.
Ein Beispiel dafür ist der Einsatz von „dummen“ Freifallbomben, die mit einem Anbausatz so intelligent gemacht werden, dass sie außerhalb der Reichweite der ukrainischen Flugabwehr auf die ukrainischen Truppen abgefeuert werden können. Konkret erhält eine 500- oder 1000-Kilogramm-Bombe einen Anbausatz und wird dann, über das Global Navigation Satellite System (GLONASS) gesteuert, ins Ziel geführt. Russland setzt diese Systeme täglich zu Dutzenden ein, zusätzlich zu anderen Systemen wie Marschflugkörpern oder ballistischen Raketen, die ebenfalls in großer Stückzahl vorhanden sind.
Nachdem die Frühjahrsoffensive nicht den gewünschten Erfolg erzielt hatte, mussten die Unterstützer der Ukraine handeln. Sie versuchten durch die Lieferung spezieller Systeme, das Gleichgewicht auf dem Gefechtsfeld wiederherzustellen und einen Ausgleich zu erzielen. Tatsächlich wurden zumindest zwischen 20 und 30 Stück Army Tactical Missiles System (ATACMS) geliefert, um der Ukraine die Möglichkeit zu geben, damit erste kritische Schläge gegen die Russen zu führen. Doch die begrenzte Stückzahl dieser Raketen hatte überschaubare Konsequenzen.
Die Ukraine versuchte, die gefährlichste Waffe der Russen auszuschalten, die russischen Kampfhubschrauber, die zu Beginn der Offensive eine große Wirkung erzielt hatten. Es gelang zwar, etliche Kampfhubschrauber zu zerstören, der Einsatz war aber einmalig sowie begrenzt und brachte nicht den durchschlagenden Erfolg, den man benötigte, um der Offensive einen Durchbruch zu ermöglichen. Das führte letztendlich dazu, dass General Walerij Saluschnyj, der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, eine mutige Maßnahme ergriff. Er verkündete öffentlich, dass die Situation an der Front prekär sei, dass ein Patt-Zustand zwischen beiden Seiten herrsche und es wesentliche Elemente brauche, um diesen zu durchbrechen.
Einsatz von Drohnen
In einem aufsehenerregenden Interview im „Economist“ sagte Saluschnyj, dass die Ukraine eine Art „Wunderwaffe“ benötige, um aus diesem Patt-Zustand herauszukommen. Damit spricht er vor allem den Einsatz von tausenden Drohnen an. Dieser führt dazu, dass beide Seiten nicht in die Offensive gehen können. Wann immer Kräfte bzw. eine größere Anzahl von gepanzerten Fahrzeugen bereitgestellt werden, erkennen das die Drohnensysteme des Gegners, der seine Drohnen dann nicht nur zur Aufklärung, sondern auch zur Zerstörung dieser Kräfte einsetzt. Deshalb kommt es praktisch zu keinen Manövern, und der Krieg bleibt statisch.
Bei den Drohnen sticht ein Typ besonders heraus, die First-Person-View-Drohne. Sie kann leicht und mit wenigen Mitteln hergestellt werden, aber sogar Kampfpanzer zerstören. Beide Seiten setzen diese ein, auch in einer improvisierten Art und Weise. Die ukrainische Seite verwendet einfache Drohnen, an denen Gefechtsköpfe angebracht werden, die russische Seite produziert diese sogar industriell.
Das Dilemma für die Ukraine besteht darin, dass die Russen nach wie vor über einen funktionierenden militärisch-industriellen Komplex verfügen, der auf Hochtouren produziert. Die Ukraine, die unter den Angriffen auf ihre strategische Infrastruktur leidet, kann diese Drohnen jedoch nur in kleinen Werkstätten herstellen. Ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit der russischen Militärindustrie ist die Erzeugung der Drohnen vom Typ „Lancet“. Diese ermöglichen es den Russen, auch tief hinter der Front wirksam zu werden, was sich für die Ukraine verheerend auswirkt. Das gilt beispielsweise, wenn es den Russen gelingt, die Positionen der kaum noch vorhandenen Kampfflugzeuge der ukrainischen Luftwaffe zu erkennen und diese mit „Lancet“-Drohnen zu zerstören. Das machen sie mit der zuvor beschriebenen Kombination von Aufklärungsdrohnen (Stichwort: „Hunter“) und Kamikaze-Drohnen (Stichwort: „Killer“).
Operatives Fazit
Im nördlichen Sektor der etwa 1.200 Kilometer langen Frontlinie fällt auf, dass Russland versucht, ähnlich wie im letzten Winter, an vielen Stellen anzugreifen. Damit will sie die Ukraine zwingen, ihre regionalen, taktischen Reserven sowie ihre überregionalen, operativen Reserven einzusetzen, um letztlich keine strategischen Reserven bilden zu können, da diese bereits an der Front verbraucht wurden. So soll jede weitere Offensive verhindert werden. Ein Beispiel dafür sind die intensiven Angriffe zwischen Kupjansk und Swatowe, also ostwärts des Flusses Oskil. Diese setzen sich südlich davon im Raum Bakhmut fort, wo der dritte Stoß der Ukraine am 4. Juni begonnen hatte. Dort haben es die Russen geschafft, den größten Teil des Territoriums, das sie davor verloren hatten, wieder zurückzuerobern, den Raum Khromove und Klischtschijiwka, nördlich und südlich von Bakhmut.
Im Bereich der Stadt Donezk erkennt man, dass auch der massive Einsatz von russischen Kräften nicht erfolgreich war, sondern zu hohen Verlusten führte, wie bei Awdijiwka, wo die Russen die Stadt mehrmals in einer Zangenbewegung einzunehmen versuchten. Marinka konnte eingenommen werden, bei Ugledar und Urozhaine, wo der zweite ukrainische Stoß stattfand, wird gegenwärtig gekämpft. In diesem Bereich haben es die Russen geschafft, den ukrainischen Angriff einzudämmen und langsam wieder vorzurücken.
Im Süden zeigt sich, dass auch beim dortigen Vorrücken der ukrainischen Verbände keine signifikanten Geländegewinne erzielt wurden. Im Gegenteil, es fanden dort intensive Gefechte statt, bei denen die ukrainischen Kräfte stark beansprucht wurden. Auch dort gelang es Russland mit der Unterstützung seiner Kampfhubschrauber und dem Einsatz der taktischen Luftwaffe, nicht nur die Linie zu halten, sondern auch Gebietsgewinne zu verbuchen. Einen Erfolg für die Ukraine gab es vor allem ostwärts der Stadt Cherson, wo es gelang, bei Krynky einen Brückenkopf auf der anderen Seite des Dnjepr zu errichten. Nicht nur dort, sondern auch an anderen Stellen demonstriert die Ukraine ihre Fähigkeit, den Druck auf die russischen Truppen aufrechtzuerhalten. Dies zwingt die Russen dazu, Kräfte von anderen Orten dorthin zu verlegen, um gegen diesen Brückenkopf vorzugehen.
Ein tatsächlicher Erfolg für die Ukraine liegt im Schwarzen Meer. Dort gelang es, die russische Schwarzmeerflotte im westlichen Teil des Schwarzen Meeres zurückzudrängen. Dies begann mit der Einnahme der Schlangeninsel und setzte sich fort, wobei der Einsatz von unbemannten Systemen sowie der Su-24M mit den luftgestützten Bodensystemen „Scalp“ und „Storm Shadow“ wesentlich war. Damit wurden mehrere russische Schiffe zerstört oder schwer beschädigt.
Strategischer Ausblick
Neben diesen taktischen und operativen Manövern ist die Einsatzführung auf der strategischen Ebene für den weiteren Verlauf des Krieges entscheidend. Es ist anzunehmen, dass Russland im zweiten Kriegswinter erneut versuchen wird, eine strategische Luftkampagne gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine durchzuführen. Im vergangenen Winter gelang es ihnen laut ukrainischen Quellen, bis zu 60 Prozent der kritischen Infrastruktur zu zerstören, von der etwa 10 bis 15 Prozent wieder instandgesetzt wurden. Die Frage, angesichts der erneuten Aktivitäten Russlands mit Marschflugkörpern und dem massiven Einsatz von Drohnen ist, wie stark die Zerstörungen sein werden.
Die Drohnen der russischen Streitkräfte werden aus dem Iran geliefert oder mittlerweile auch in Russland produziert. Eingesetzt werden insbesondere die Modelle „Shahed“ 131 und 136 sowie ein neues, schnelleres Modell („Shahed“ 238), das offensichtlich bereits im Einsatz ist. Es scheint, als würden die Russen versuchen, so in das Landesinnere vorzudringen. Die Angriffsorte werden in der Tiefe ausgewählt, da dort z. B. die wichtigen Su-24M stationiert sind oder zentrale Versorgungsdepots existieren, die zerstört werden sollen, um der Ukraine die Grundlage für den Kampf zu entziehen.
Auf der strategischen Ebene ist die Ukraine von den Lieferungen des Westens abhängig. In den vergangenen Monaten kam es zu einem signifikanten Rückgang von Lieferungen und Hilfszusagen. Insbesondere die USA spielen dabei eine entscheidende Rolle, wo es mittlerweile eine große Debatte darüber gibt, ob weitere Hilfsgelder bereitgestellt werden sollen oder nicht. In diesem Fall ist zu betonen, dass die Ukraine weiteres Material benötigt, um im nächsten Frühjahr entweder offensiv gegen Russland vorgehen zu können oder in der Defensive zu bleiben. Dazu gehören vor allem Kampffahrzeuge, Artilleriesysteme sowie zusätzliche Soldaten. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den demografischen Möglichkeiten der Ukraine, diesen bereits zwei Jahre anhaltenden Krieg fortzuführen.
Der Ukraine-Krieg wird weitergehen. Damit sind in den nächsten Wochen und Monaten weitere Kämpfe an den unterschiedlichen Frontabschnitten zu erwarten. Präsident Selenskyj hat kürzlich betont, dass es zumindest ein Erfolg sei, dass sie nicht zurückweichen, sondern das gewonnene Gelände halten können. Trotzdem strebt die Ukraine weiterhin danach, ihr Territorium wiederherzustellen. Ob und wenn ja, wie und wann ihr das gelingen kann, wird die Zukunft zeigen.
Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD; Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, dzt. Kommandant der Garde in Wien.
Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 1/2024 (396).