- Veröffentlichungsdatum : 11.12.2020
- – Letztes Update : 08.04.2021
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Schlacht um Debalzewe - Teil 2
Was im November 2013 mit friedlichen Protesten in Kiew begonnen hatte, mündete wenige Monate später in einem bis heute andauernden bewaffneten Konflikt in der Ostukraine. Nachdem im ersten Teil des Beitrages der bewaffnete Konflikt im Donbas im Allgemeinen, die Konfliktgegner sowie der Raum der Kampfführung um Debalzewe beleuchtet wurden, folgen im zweiten Teil eine detaillierte Darstellung der Kampfhandlungen sowie eine taktische Bewertung.
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Nach der überraschenden Annexion der Krim durch Russland kam es nur wenige Wochen später ab April 2014 auch in weiten Teilen der Ostukraine zu gezielten Übergriffen auf staatliche Einrichtungen und zu flächendeckenden Protesten. Eine pro-russische Bewegung brachte mit mutmaßlich russischer Unterstützung handstreichartig weite Teile des ukrainischen Donbas unter ihre Kontrolle und verkündete letztlich die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die neue ukrainische Regierung in Kiew steckte im Gegensatz zur separatistischen Machtübernahme auf der Krim im März 2014 dieses Mal nicht zurück und nahm den Kampf um die Wiedererlangung der Kontrolle des Raumes auf. Was als Antiterroroperation seitens der Ukraine ab April 2014 angelegt war, entwickelte sich wenige Monate später zu einem vorrangig konventionell ausgetragenen Konflikt mit militärischen Kräften. Ukrainischen Polizeieinheiten und Verbänden der ukrainischen Streitkräfte standen ab Sommer 2014 zunehmend kampfkräftige Verbände der Volkswehren sowie mutmaßliche Kampfverbände der russischen Streitkräfte gegenüber. Nach ersten schweren Kampfhandlungen folgte eine militärische Pattsituation und Anfang September 2014 („Minsk I") ein politisches Einlenken der Konfliktparteien. Die Frontlinien erstarrten vorerst. Um das eingeschränkte Leistungsvermögen der ukrainischen Landstreitkräfte wissend, ergriff die pro-russische Seite wenige Wochen später neuerlich die Initiative und startete mit Jahreswechsel 2014/15 eine entscheidungssuchende Winteroffensive mit vorwiegend konventioneller Kampfweise. Der Raum Debalzewe, ein markanter ukrainischer Frontvorsprung, wurde dabei zu einem vordinglichen taktischen Ziel.
Kampfführung im Raum Debalzewe
Bei den Kämpfen um Debalzewe handelte es sich nicht um ein einzelnes „großes" Gefecht, sondern um eine Vielzahl „kleiner" Gefechte über einen Zeitraum von vier Wochen von Mitte Jänner bis Mitte Februar 2015. In unterschiedlicher Intensität, Umfang und Dauer kam es dabei zu flächendeckenden Kampfhandlungen im Umkreis von ca. 20 km um Debalzewe sowie gegen Ende auch in der Stadt selbst. Der mehr als 1.000 km² große Raum – als Frontbogen von Debalzewe bezeichnet – wurde damit zur unmittelbaren Kampfzone, wo sich in Summe etwa 6 000 ukrainische Soldaten und 19.000 pro-russische Kämpfer und Soldaten gegenüberstanden. Ukrainischen Schätzungen zufolge besaß die pro-russische Seite eine Kampfkraftüberlegenheit bei der Infanterie in einem Verhältnis von 2:1, bei Kampfpanzern bzw. gepanzerten Kampf- und Gefechtsfahrzeugen (GKGF) von 2:1 sowie bei Artilleriesystemen von 7:1.
Trotz der Raum- und Zeitdimension waren die einzelnen Gefechte aus Sicht beider Konfliktseiten jeweils auf ein spezifisches taktisches Ziel ausgerichtet. Auf der einen Seite auf die Verteidigung und das Halten des Frontbogens durch die ukrainische 128. Gebirgsinfanteriebrigade (GebInfBrig) und auf der anderen Seite auf die angriffsweise Inbesitznahme des Raumes durch die Milizverbände der Volkswehren sowie durch mutmaßlich russische Kampfverbände.
Die Summe aller Gefechte zwischen dem 14. Jänner und dem 20. Februar 2015 wird heute als „Schlacht um Debalzewe" – im Sinne eines „großen Gefechtes" – bezeichnet. Die weiteren Darstellungen zum Schlachtverlauf veranschaulichen relevante Aspekte der taktischen Einsatzführung beider Konfliktseiten und bilden die Basis für taktische Erkenntnisse und Lehren. Die Entstehung des „Frontbogens" um Debalzewe ist auf die pro-russische Sommeroffensive des Jahres 2014 zurückzuführen, in der die ukrainischen Truppen Richtung Westen zurückgedrängt wurden. Der mit dem „Protokoll von Minsk" (Minsk I) erwirkte Waffenstillstand beendete abrupt die militärische Offensive auf politisches Geheiß, wodurch es den pro-russischen Angreifern nicht mehr gelang, den markanten ukrainischen Frontvorsprung bei Debalzewe zu „begradigen".
Mit Jahreswechsel 2014/15 startete eine zweite große pro-russische Offensive – die Winteroffensive. Mit mutmaßlich „frischen" Verbänden der russischen Streitkräfte wurde auf breiter Front – von Luhansk über Donezk bis Mariupol – konventionell angegriffen, um die entlang der Waffenstillstandslinie verteidigenden ukrainischen Truppen aus den Oblasten Donezk und Luhansk zu werfen. Die Offensive wurde zeitgleich über sechs Angriffsachsen geführt, das Schwergewicht lag im Raum Debalzewe. An zwei der sechs Angriffsachsen – am Flughafen Donezk und im Raum Debalzewe – konnten bis Mitte Februar 2015 begrenzte taktische Erfolge erzielt werden, die neuerlich zu richtungsweisenden politischen Verhandlungen in Minsk führten und deren Verhandlungsausgang beeinflussten. Analog zu „Minsk I" zeigte sich abermals das für hybride Konflikte charakteristische enge Zusammenspiel zwischen der taktischen und der politisch-strategischen Ebene.
Zum Zweck der Analyse lässt sich die Schlacht um Debalzewe zwischen dem 14. Jänner und dem 20. Februar 2015 rückblickend in vier allgemeine Phasen gliedern:
Phase 1: Angriffsvorbereitung der pro-russischen Kräfte;
Phase 2: Einbruch und Inbesitznahme wichtiger Geländeteile;
Phase 3: Einschließung von Debalzewe und Isolation des Frontbogens;
Phase 4: Inbesitznahme von Debalzewe.
Phase 1: Angriffsvorbereitung der pro-russischen Kräfte (14. bis 26. Jänner)
Im Rahmen der pro-russischen Winteroffensive wurden ab Mitte Jänner 2015 die Angriffsvorbereitungen entlang der Angriffsachse Debalzewe intensiviert, um im Zusammenwirken der Volkswehren Donezk und Luhansk sowie mit den mutmaßlich verschleierten regulären Verbänden der russischen Streitkräfte zunächst den Frontbogen zu nehmen und in der Folge den Angriff Richtung Bachmut bzw. Kramatorsk bis an die westliche Grenze des Oblastes Donezk fortzuführen. Hierzu verstärkten weitere Milizverbände der beiden Volkswehren die bereits eingesetzten pro-russischen Kräfte an der Waffenstillstandslinie. Zudem wurden bis zu vier vermutlich russische Bataillonskampfgruppen (BKG) herangeführt und etwa 15 km südostwärts sowie westlich des ukrainischen Vordersten Randes der Verteidigung (VRV) am Frontbogen bereitgestellt.
Auf Basis der Aufklärungsergebnisse von Spezialeinsatzkräften, Drohnen/Unmanned Aerial Vehicles (UAV) und elektronischen Aufklärungssensoren begannen ab Mitte Jänner 2015 gezielte Artillerieüberfälle mit Granatwerfern, (Panzer-)Artillerie und Raketenwerfen gegen ukrainische Kräfte im VRV sowie gegen Führungseinrichtungen, Verfügungs- und Feuerstellungsräume in und nordwestlich von Debalzewe. Darüber hinaus wurde im Rahmen der Elektronischen Kampfführung (EloKa) durch Einsatz von Aufklärungs- und Störsystemen wie u. a. dem System „Zhitel" die Führungsfähigkeit der krainischen Truppen fortwährend beeinträchtigt. Unter dem Schutz von Fliegerabwehrsystemen wurden schließlich aus mehreren Richtungen – von Nordosten bis Westen – erste Bindungsangriffe kompanie- bzw. bataillonsstarker Elemente an den VRV geführt.
Als Reaktion auf die erkannten Angriffsvorbereitungen intensivierten die ukrainischen Kräfte die Abwehrbereitschaft. Da aufgrund des Ausmaßes der Winteroffensive ein Verschieben von ukrainischen Truppen nur bedingt möglich war, konnten die im Raum Debalzewe eingesetzten Kräfte – die 128.GebInfBrig, das mechInfB25 sowie das „Donbas-Bataillon" – nur in geringem Maße verstärkt werden.
In Summe verteidigten schließlich bis zu zehn Bataillone der ukrainischen Streitkräfte, das „Donbas-Bataillon" sowie (Teil-)Einheiten weiterer Milizverbände den Frontbogen. Der Verlauf des VRV orientierte sich vorwiegend an jenem der politisch festgelegten Waffenstillstandslinie und belief sich daher auf eine Ausdehnung von mehr als 80 Kilometern. Von einer Tiefenstaffelung in der Verteidigung musste folglich Abstand genommen werden.
In Ermangelung ausreichender mechanisierter Truppen wurde die Kampfführung auf eine lineare Verteidigung aus Stellungen unter maßgeblicher Abstützung auf ausgebaute (zugs- bzw. Kompaniestarke) Stützpunkte sowie wenige stoßkräftige, panzerstarke Reserven ausgerichtet. Die Versorgung erfolgte über die einzige leistungsfähige Versorgungsstraße, die „M03". Die Führung der Kräfte im Frontbogen erfolgte über ein vorgeschobenes Führungselement im 50 km entfernten Bachmut sowie über das Hauptquartier der „Antiterroroperation" (ATO) im 90 km entfernten Kramatorsk.
Phase 2: Einbruch und Inbesitznahme wichtiger Geländeteile (27. Jänner bis 6. Februar)
Unter Fortführung der Bindungsangriffe aus mehreren Richtungen von Nordosten bis Westen sowie des Artillerie- und EloKa-Einsatzes begann am 27. Jänner aus dem ca. 30 km westlich von Debalzewe gelegenen Bereitstellungsraum Horliwka der Angriff von bis zu drei BKG (rund 2.000 Kämpfer/Soldaten mit 60 GKGF) entlang der Verbindungslinie „M04" auf den VRV. Nach für beide Seiten verlustreichen Kampfhandlungen konnte am 29. Jänner der Einbruch in den VRV erzielt sowie am Folgetag weiter in die Tiefe angegriffen und die von Debalzewe ca. 13 km entfernte, leicht überhöht gelegene Kleinstadt Wuhlehirsk in Besitz genommen werden. Dem Angriffserfolg im Westen folgten marginale Raumgewinne im Osten im Raum Werhuliwka am 1. Februar sowie im Süden im Raum Maloorlivka am 3. Februar. Parallel dazu wurden mit zwei mutmaßlich russischen BKG weitere Verstärkungskräfte in den Raum Altschewsk (ca. 30 km östlich von Debalzewe) herangeführt.
Durch das ukrainische mechInfB40 und zwei Bataillone der 128.GebInfBrig konnte der VRV im Osten und Süden behauptet werden, wenngleich die eigenen vor allem durch feindliches Artilleriefeuer zugefügten Ausfälle die Kampfkraft sukzessive minderten. Im Westen konnte der Einbruch der kampfkraftüberlegenen, mutmaßlich russischen BKG durch das „Donbas-Bataillon" im Zusammenwirken mit Teilen des mech-InfB13 auch trotz des Gegenstoßes einer Kampfgruppe - gebildet aus Teilen des mechInfB25 - nicht verhindert werden. Der Verlust von Wuhlehirsk bedeutete einerseits die Gefahr des Abschneidens der südlich von Debalzewe verteidigenden 128. GebInfBrig und andererseits eine Bedrohung für die „M03" als logistische „Lebensader" der Truppen im Frontbogen.
Die Fortführung der Verteidigung zwischen Wuhlehirsk und Debalzewe wurde durch das offene, deckungsarme Gelände erheblich erschwert. Darüber hinaus wurden weitere ukrainische Truppen, die nach dem Durchbruch an den Frontbogen herangeführt wurden, auf dem Marsch aufgeklärt, durch weitreichende Artillerie bewirkt und damit eine unmittelbare Verstärkung verhindert. Durch die unzureichende ukrainische Aufklärung und feindliche EloKa gestaltete sich die Einsatzführung zumeist reaktiv und glich vielfach einem „Handeln ins Ungewisse".
Phase 3: Einschließung von Debalzewe und Isolation des Frontbogens (7. bis 16. Februar)
Nach einer zwölfstündigen Waffenruhe zur Evakuierung der Zivilbevölkerung setzten die mutmaßlich russischen Bataillonskampfgruppen (BKG) am 7. Februar ihre Angriffsführung aus dem Raum Wuhlehirsk Richtung Nordosten weiter fort. Mit der Inbesitznahme der etwa fünf Kilometer nordwestlich von Debalzewe an der „M03" gelegenen Gehöftgruppe am 9. Februar wurde die Versorgung der Verteidiger unterbrochen und Debalzewe de facto eingeschlossen. Einer Verlagerung des Angriffsschwergewichtes in den Nordosten folgend, wurde durch pro-russische Umfassungskräfte, in der Stärke von bis zu zwei BKG aus dem Raum Altschewsk antretend, der VRV im Bereich des verteidigenden mechInfB40 durchbrochen, in der Folge das Nadelöhr Luhansk genommen und der Frontbogen vollständig isoliert. Die Angriffsführung sowie die Abwehr von Gegenstößen wurden durch den unverändert nachhaltigen Artillerieeinsatz unterstützt.
Trotz der parallelen Verhandlungen in Minsk und des neuen politischen Übereinkommens nach „Minsk II" am 12. Februar wurde der Angriff auf taktischer Ebene fortgesetzt und im Südosten der Vorstoß bis an den Stadtrand von Debalzewe geführt. Den taktischen Vorteil nutzend, unterbreitete man den ukrainischen Kräften am 16. Februar ein Angebot zur kampflosen Räumung des Frontbogens. Der Frontbogen um Debalzewe wurde Mitte Februar 2015 zum „Kessel von Debalzewe". Die Verteidiger konnten mit den verfügbaren Kräften die Einschließung lediglich verzögern, jedoch nicht verhindern. Verstärkungskräfte für einen Entsatz standen nicht bereit, und durch politische Vorgaben wurde ein Ausbruch der 128.GebInfBrig aus dem „Kessel" untersagt. Schätzungen zufolge waren etwa zweitausend ukrainische Soldaten in Debalzewe eingeschlossen – ein Umstand, der den Ausgang der Verhandlungen in Minsk nachhaltig beeinflusste. Die zunehmenden Ausfälle, Versorgungsprobleme sowie die winterliche Witterung veranlassten die taktischen Kommandanten entgegen den militärstrategischen Vorgaben schließlich zu eigenmächtigen Vorbereitungen des Rückzuges aus dem „Kessel".
Phase 4: Inbesitznahme von Debalzewe (17. bis 20. Februar)
Nach der erfolgreichen Isolation des Frontbogens erhöhten die pro-russischen Kräfte den Druck auf die eingeschlossene ukrainische Truppe, um die Einstellung der Kampfhandlungen und die Rücknahme der Kräfte zu erwirken. Unter Inkaufnahme von Kollateralschäden wurden die verbliebenen Stützpunkte der 128.GebInfBrig am östlichen, südlichen und westlichen Stadtrand von Debalzewe vorwiegend durch Artilleriefeuer niedergekämpft. Ein Rückzugskorridor für die ukrainischen Truppen aus Debalzewe Richtung Norden wurde bewusst offengelassen, um einen verlustreichen Häuserkampf zu vermeiden.
Trotz der in Aussicht gestellten Möglichkeit einer kampflosen Rücknahme der ukrainischen Verteidiger aus dem „Kessel von Debalzewe" wollte man bereits in der Nacht auf den 18. Februar mit einem verschleierten Rückzug beginnen. Über einen nordöstlich der „M03" gelegenen Fahrweg sollte die Evakuierung der ukrainischen Kräfte weitgehend unbemerkt erfolgen, um nicht erneut – wie schon in der „Schlacht um Ilowajsk" Ende August 2014 – in einen verlustreichen Hinterhalt zu geraten. Trotz der Zusicherung der pro-russischen Kräfte erfolgten dennoch Panzer- und Artillerieüberfälle auf die ausweichenden Verteidiger. Waffen und Gerät sowie verwundete bzw. gefallene Soldaten mussten vielfach zurückgelassen und die Flucht zu Fuß fortgesetzt werden.
Die Schlacht um Debalzewe endete schließlich am 20. Februar 2015 mit der öffentlich-medialen Aufgabe der Stadt durch die politische Führung der Ukraine. Der VRV verlief ab diesem Zeitpunkt über das Nadelöhr Luhansk. Durch „Minsk II" fand die Winteroffensive im Raum Debalzewe ein abruptes Ende. Retrospektiv markierte die Schlacht das Ende der konventionellen Kampfführung im Konflikt in der Ostukraine. Seither herrscht ein „Stellungskrieg" entlang des Verlaufes der Waffenstillstandslinie nach „Minsk II".
Der Schlachtausgang wurde durch beide Konfliktgegner öffentlich-medial als Erfolg gewertet. Angaben über konkrete Ausfallszahlen wurden bewusst zurückgehalten und ins „rechte Licht" gerückt, um einen Nutzen für die Gegenseite im Rahmen der hybriden Kriegsführung zu unterbinden.
Taktische Erkenntnisse und Lehren
Obwohl der seit nunmehr sechs Jahren andauernde Konflikt in der Ostukraine hauptsächlich einem „Stellungskrieg" analog dem an der Westfront 1915/16 im Ersten Weltkrieg gleicht, war vor allem der Zeitraum im Vorfeld von „Minsk I" und „Minsk II" von beweglich geführten, konventionellen Kämpfen der Landstreitkräfte geprägt. Die Kampfhandlungen dieser Zeit im Allgemeinen sowie die Schlacht um Debalzewe im Speziellen besitzen hohe Relevanz für die Weiterentwicklung der Elementartaktik. Elf Jahre nach der „Operation Iraqi Freedom" standen sich in der Ostukraine im unmittelbaren Nahbereich der Europäischen Union neuerlich zwei konventionell agierende Konfliktparteien gegenüber und ermöglichten einen tiefen Einblick in die laufenden Entwicklungen der Taktik von Landstreitkräften bzw. des Kampfes der verbundenen Waffen.
Interdependenzen der Führungsebenen im hybriden Konflikt
Im hybriden Konflikt stehen taktische Handlungen in besonders enger Verbindung mit dem politisch-strategischen Wirken. Der strategische Kontext prägt dabei maßgeblich die Durchführung auf taktischer Ebene, da aus der intensivierten Wechselwirkung zwischen taktischen Effekten und strategischem Nutzen eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten hervorgehen kann, um den politischen Willen durchzusetzen.
Der mit „Minsk I" entstandene 80 km lange Frontbogen um Debalzewe war aus ukrainischer Sicht ambivalent. Obwohl er ursächlich als „Sprungbrett" einer Offensive gegen die pro-russisch besetzten Gebiete fungieren hätte können, entwickelte er sich in der politisch verordneten, taktischen Defensive ab September 2014 zu einer augenscheinlichen „Achillesferse" der Verteidigung. Sowohl die kampflose Aufgabe des Frontbogens um Debalzewe als auch zuvor des Flughafens Donezk war im Herbst und Winter 2014/15 strategisch nicht opportun. Beide Räume wurden zum Sinnbild des politischen Willens und der Widerstandskraft der Ukraine.
Während der Frontvorsprung der Ukraine letztlich keinen Nutzen brachte, rückte er – wie auch der Flughafen Donezk – ins Schwergewicht der pro-russischen Winteroffensive 2015. Eine entscheidungssuchende Schlacht wurde in diesem Raum aus pro-russischer Sicht bewusst gesucht. Einerseits sollte das offensive Vorgehen, politisch-strategisch betrachtet, die Machtlosigkeit Kiews zur militärischen Konfliktlösung im Donbas darlegen. Andererseits war der taktische Erfolg der Inbesitznahme des Frontbogens kalkulierbar, da der Raum nur unter erheblichem Kräfte- und Mitteleinsatz zu halten gewesen wäre – Ressourcen, über welche die ukrainischen Streitkräfte am Beginn des zweiten Konfliktjahres nicht mehr verfügten. Was für Kiew strategisch notwendig erschien, war am Frontbogen – taktisch unter den gegebenen Bedingungen – undurchführbar.
Taktische Bedeutung des Frontbogens
Der mit September 2014 entstandene Frontbogen um Debalzewe stellte beide Konfliktseiten gleichermaßen vor taktische Möglichkeiten und Risiken, die sich anhand des Prinzips der „inneren und äußeren Linie" erklären lassen. Das Agieren auf der „inneren Linie" – an der taktischen Drehscheibe Debalzewe – hätte den ukrainischen Streitkräften eine entscheidungssuchende Offensive entlang dreier allgemeiner Angriffsrichtungen ermöglichen können: ein „Sichelschnitt" Richtung Donezk im Süden bzw. Luhansk im Norden oder ein rascher frontaler Angriff bis an die russische Grenze. Alle drei Optionen stellten für die pro-russischen Kräfte ein hohes Risiko dar, da aus Sicht des Kraft-Zeit-Raum-Kalküls eine Trennung der eigenen Kräfte unabwendbar erschien. Da eine ukrainische Offensive durch die politische Führung in Kiew offenkundig ausgeschlossen wurde, mussten die ukrainischen Kräfte eine Verlängerung der Verteidigungslinie um etwa 80 km im durchwegs offenen Gelände in Kauf nehmen. Die eingesetzten Verbände hatten hierzu die Verteidigung am Frontbogen (in Summe mehr als 80 km) im weit überdehnten Gefechtsstreifen ohne wirksame Tiefenstaffelung vorzubereiten.
Das Damoklesschwert einer potenziellen ukrainischen Offensive aus dem Raum Debalzewe ließ den Frontbogen zum primären Angriffsziel der pro-russischen Winteroffensive werden. Darüber hinaus implizierte die Inbesitznahme der taktischen Drehscheibe Debalzewe die Kontrolle über die wichtigen Bewegungslinien „M03" und „M04" im Donbas und damit die gesteigerten Bewegungsmöglichkeiten im besetzten Gebiet. Auf der „äußeren Linie" agierend, wurden die pro-russischen Angriffskräfte an den Frontbogen verlegt, und durch einen konzentrisch geführten Angriff wurde letztlich die Einschließung tausender ukrainischer Soldaten im „Kessel von Debalzewe" erzielt.
Einschließung von Debalzewe „Trennen und Schlagen"
Das Streben danach, die Hauptkräfte des Verteidigers zu meiden und ihn dennoch zu bezwingen, ist so alt wie die Kriegsgeschichte selbst. Trotz neuartiger (technologischer) Erscheinungen auf dem Gefechtsfeld hat man nach dem gleichen Prinzip gehandelt. Durch Umfassung und Einschließung soll der Gegner isoliert und in der Folge zur Aufgabe gezwungen bzw. vernichtet werden. Das Prinzip ist von der obersten bis zur untersten taktischen Führungsebene umsetzbar. Bei der Schlacht um Debalzewe handelt es sich, wenn auch kleiner in der Größenordnung, um die Fortsetzung des taktischen Prinzips der bekannten Schlachten von Cannae 216 v. Chr. und Tannenberg 1914 sowie der Kesselschlachten des Zweiten Weltkrieges. Auch die taktischen Herausforderungen in der Umfassung und der Einschließung sind zeitlos: den Gegner im Raum binden sowie Kräfte in den Rücken des Gegners heranführen, bevor eine entscheidende Reaktion erfolgen kann.
Die pro-russischen Angreifer vollzogen 2015 bei Debalzewe einen doppelten Umfassungsangriff, um die Verteidiger im Frontbogen einzuschließen und in der Folge zur Aufgabe zu zwingen. Hierzu wurden zuerst die ukrainischen Truppen an mehreren Stellen des Frontbogens gebunden. Über Schwachstellen an den Flanken wurde der Einbruch in das Verteidigungsdispositiv erzielt und schließlich das entscheidende Gelände an der Bewegungslinie „M03" zwischen Luhansk und Debalzewe genommen. Der Verlauf des Frontbogens begünstigte diese Form des Manövers: dem Angreifer standen drei allgemeine Stoßachsen zur Verfügung.
Auf das „Trennen" des Frontbogens von der rückwärtigen Basis folgte das „Schlagen" des Gegners im unmittelbaren Kampfraum. Unter bewusster Inkaufnahme von Kollateralschäden wurden mit der Artillerie die Verteidiger niedergekämpft, um letztlich die Rücknahme der Kräfte zu erzwingen. Nachdem der Kampfeswille der Ukrainer gebrochen war, wurde eine kontrollierte Rücknahme über eine bedingt leistungsfähige, parallel zur „M03" verlaufende Bewegungslinie (Fahrweg) zugelassen. „Wenn du einen Feind eingekreist hast, lass ihm einen Fluchtweg“ proklamierte bereits Sun Tzu. Ein verlustreicher Ortskampf in Debalzewe „bis zum letzten Mann" sollte seitens der pro-russischen Kräfte vermieden werden.
Aus Sicht des Verteidigers war die Einsatzführung weitgehend starr und reaktiv ausgelegt. Es fehlte vorwiegend an stoßkräftigen, beweglichen Kampfelementen. Ukrainische Gegenstoßkräfte konnten lokale Einbrüche zwar bereinigen, doch mechanisierte Kräfte, und hier vor allem Kampfpanzer, standen für einen entscheidenden Gegenangriff zur Vernichtung der pro-russischen Kräfte am VRV nicht zur Verfügung. Es zeigt sich, dass auch in der Einsatzart Verteidigung die Einsatzformen des Angriffes anzuwenden sind, um dem Gegner die Initiative zu entreißen und ihn zu zwingen, von seinem taktischen Ziel abzuweichen. Die Verteidigung muss zwingend aus einer Kombination defensiver und offensiver Handlungen bestehen – unter bewusster Inkaufnahme von Lücken und der damit einhergehenden Risiken. Je weniger der Raum in der Verteidigung durch eigene Kräfte gesättigt werden kann, desto mehr Lücken müssen in Kauf genommen werden. Folglich ist die Verteidigung „stützpunktartiger" anzulegen und mehr Bedacht auf das Bereithalten stoßkräftiger Reserven zu legen. Die Handaktwerte (darin sind Parameter zur Planung festgelegt; Anm.) in der Taktik mögen zwar weiterhin gültig sein, jedoch zeigen die Einsatzerfahrungen unter anderem aus der Ukraine, dass dem Taktiker tendenziell weniger Kräfte zur Auftragserfüllung zur Verfügung stehen als dies beispielweise zur Zeit des Kalten Krieges der Fall war. Demnach ist die Kampfführung in der Defensive neu zu „denken". Erforderlich ist die Abkehr vom statisch-linearen Kräfteeinsatz im gesamten Gefechtsstreifen hin zu einer Einsatzführung mit einer geringen Anzahl an Wirkungsräumen, in denen die Kräfte zusammenwirken. Auch große Lücken sind in Kauf zu nehmen und durch Kräfte oder technische Sensoren zu überwachen. Grundvoraussetzung dafür sind Mobilität, Schutz und Feuerkraft auch der in der Defensive eingesetzten Kräfte.
Trotz der zunehmenden Bedeutung von Cyber- und Informationskriegsführung zeigt sich am Konflikt in der Ostukraine die unveränderte Relevanz des konventionellen Kampfes. Das Beherrschen der Taktik mit ihren „zeitlosen" Prinzipien und Grundsätzen ist hierzu unabdingbar. Die Umsetzung des Kampfes der verbundenen Waffen als räumliches und zeitliches Zusammenwirken von Kräften und Mitteln verschiedener Waffengattungen im Gefecht steht unverändert im Zentrum der Einsatzführung. Unter Berücksichtigung der Entwicklungen und technologischen Neuerungen des beginnenden 21. Jahrhunderts lassen sich am Konflikt in der Ostukraine im Allgemeinen sowie an der Schlacht um Debalzewe im Speziellen einige richtungsweisende Aspekte erkennen, die in der Folge erläutert werden.
Bataillonskampfgruppe als Hauptträger des Gefechtes
Die „Handaktwerte" in den Einsatzarten Angriff und Verteidigung bestätigten sich im Donbas bzw. in Debalzewe nur bedingt. Das Verhältnis der taktischen Faktoren „Raum" und „Kraft" veränderte sich: die Gefechtsstreifen der Verbände waren durchwegs überdehnt, die erforderliche Sättigung des Raumes durch Kräfte war nicht gegeben. Unter diesen Umständen zeigte sich die Dringlichkeit der beweglichen Einsatzführung sowohl in der Offensive als auch in der Defensive. Die pro-russische Seite setzte nicht eine kleine Anzahl großer Verbände, sondern eine große Anzahl kleiner Verbände – die mutmaßlich russischen BKG – ein. Diese BKG waren nicht Teil der „starren“ Gefechtsordnung eines großen Verbandes, sondern manövrierten weitgehend frei im zugewiesenen Raum. Dabei wurden sie miteinander sowie mit den Milizverbänden der Volkswehren koordiniert, um im Verbund Wirkung zu erzielen. Bezogen auf den ukrainischen Gegner wurde damit eine effektive Balance aus Feuerkraft, Beweglichkeit und Schutz gefunden. Vor allem die Panzereinheiten sowie die Artilleriebatterien verliehen den BKG punktuell die notwendige Durchsetzungsfähigkeit auf dem Gefechtsfeld. Die Schwäche dieser Verbände in der logistischen Durchhaltefähigkeit wurde durch eine begrenzte Einsatzdauer sowie ein Rotationssystem ausgemerzt. Die Reaktion des Verteidigers auf diese Art der beweglichen, offensiven Einsatzführung hätte einer beweglichen Verteidigung bedurft bzw. wie am Beispiel Debalzewe zumindest einer beweglich geführten Verteidigung. Kampfkräftige Gegenstoß- bzw. Gegenangriffskräfte müssen dabei jedenfalls bereitgehalten werden, um dem Gegner die Initiative zu entreißen.
Stellenwert des Kampfpanzers
Die technische Kampfwertsteigerung des Kampfpanzers – Stichwort „Reaktivpanzerung" – in Verbindung mit dem weitgehend geschlossenen Einsatz im Wirkungsverbund der Panzerkompanie auf pro-russischer Seite resultierte in einer hohen Durchsetzungsfähigkeit gegen ukrainische Panzer- und Infanterieeinheiten. Die ukrainischen Systeme waren den mit modernen aktiven Schutzkomponenten ausgestatteten Kampfpanzern russischen Ursprungs, wie dem T-72B3 und dem T-90, im Gefecht unterlegen. Auch die ukrainische Infanterie konnte aufgrund der veralteten sowie zahlenmäßig wenig verfügbaren Panzerabwehrmittel, wie der AT-5, der RPG-7 und -26, den gegnerischen Kampfpanzern nur durch die Kombination aus ausgebauten Stellungen, Minensperren und Artilleriefeuer begegnen. Durch den stützpunktartigen Einsatz der ukrainischen Infanterie war man in der Abwehr direkt geführter Angriffe zwar zumeist erfolgreich, doch der Umfassung durch gegnerische Panzereinheiten konnte nichts entgegengesetzt werden. Dadurch wurde man vielfach abgeschnitten bzw. zur Rücknahme gezwungen. Erst die Bereitstellung moderner Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ „Skif" sowie in weiterer Folge der „Javelin" (Tandemhohlladungen) durch die USA ab Mitte 2015 merzte die Panzerabwehrschwäche der ukrainischen Infanterie aus.
Zusammengefasst lässt sich folgern, dass der Kampfpanzer auch in der Verteidigung unabdingbar ist und vor allem ab Kompaniestärke seine volle Schlagkraft im Gegenstoß bzw. Gegenangriff erreicht. Wenn der Einsatz „weniger Kräfte in überdehnten Räumen“ zunehmend zur „Norm" wird, dann wird die Bedeutung der beweglichen Einsatzführung und damit der Stellenwert des Kampfpanzers im Gefecht gleichermaßen zunehmen. Damit einhergehend muss der Anpassung der Panzerabwehrfähigkeit in der Infanterietruppe Rechnung getragen werden.
Artillerie als „Wegbereiter" der Kampftruppe
Der aus der Zeit des Ersten Weltkrieges stammende Spruch: „Artillery conquers, infantry occupies" (Artillerie erobert, Infanterie besetzt) unterstreicht den Stellenwert der Artillerie auf pro-russischer Seite im Donbas und in Debalzewe. Etwa 85 Prozent der Ausfälle bei ukrainischen Soldaten, 50 Prozent bei Kampf- und Gefechtsfahrzeugen sowie 65 Prozent bei Artilleriesystemen lassen sich auf die Wirkung russischer Artillerie zurückführen. Die Intensität des Artillerieeinsatzes zwang die ukrainischen Truppen zur Abstützung auf ausgebaute Stellungen und resultierte daher in einer weitgehend starren Verteidigung.
Im Detail zeigten sich folgende Besonderheiten am Artillerieeinsatz pro-russischer Kräfte:
- Rohr- und Raketenartillerieeinheiten wurden direkt in die BKG eingegliedert, um die selbstständige Einsatzführung zu ermöglichen. Die „überdehnten" Räume ließen eine zentral bereitgestellte Artillerieunterstützung aus der Tiefe des Raumes nicht zu.
- Die Ziel- und Wirkungsaufklärung erfolgte vielfach durch UAV (z. B. „Forpost" und „Orlan" 10) und Spezialeinsatzkräfte sowie EloKa-Systeme (z. B. „Borisoglebsk" 2 und „Leer" 3). Damit konnten große Räume überwacht und aufgeklärt werden. Durch kurze Befehlswege wurde das Artilleriefeuer in wenigen Minuten zum Wirken gebracht.
- Die Flächenwirkung hatte Priorität. Hierzu wurde Raketenartillerie, unter anderem die Systeme BM-21 „Grad“, 9A53 „Tornado" und TOS-1 „Buratino", sowie Rohrartillerie des Typs 2S1 eingesetzt, mit denen auch Bomblets, fernverlegbare Minen und thermobarische Munition verschossen wurden. Völkerrechtliche Bestimmungen und Kollateralschäden wurden dabei vielfach ignoriert.
- Aufklärungsartillerieradarsysteme wie „Zoopark" 1, „Leopard" T und „Lyx" 1 ermöglichten das zeitnahe Bekämpfen bzw. das Niederhalten der ukrainischen Artillerie.
Das „(milch)gläserne" Gefechtsfeld
Der pro-russische taktische Aufklärungsverbund bestand aus taktischen UAV, Spezialeinsatzkräften, Kämpfern der Milizverbände sowie Aufklärungseinheiten der Bataillonskampfgruppen (BKG). Dieses Netz an Sensoren generierte einerseits ein akkurates Lagebild zur Wahrung der Führungsüberlegenheit und ermöglichte andererseits die Umsetzung des „dynamic targeting".
Der verstärkte Einsatz von UAV zur Ziel- und Wirkungsaufklärung stach auf pro-russischer Seite hervor. Gefechtstechnische und taktische UAV mittlerer und kurzer Reichweite klärten im Verbund ukrainische Verbände an der Front, der Flanke sowie im Rücken auf und ermöglichten jederzeit den raschen Artillerieeinsatz. Auch wenn ein gänzlich „gläsernes Gefechtsfeld" durch den Einsatz der UAV (noch) nicht erreicht werden konnte, so mussten die ukrainischen Truppen dennoch reagieren: Tarnen und Täuschen, Verlegungen bei Nacht sowie ständiges Auflockern und Unterziehen fanden „wieder" Eingang in die Gefechtsführung. Die Maßnahmen waren durchwegs erfolgversprechend und reduzierten die pro-russische Wirkung, jedoch ging dadurch maßgeblich die Initiative auf dem Gefechtsfeld verloren.
Auf ukrainischer Seite konnte dagegen kein akkurates Lagebild generiert werden. Eine abstandsfähige Aufklärungsfähigkeit, allen voran durch UAV, war schlichtweg nicht vorhanden.
Unterstützung aus der dritten Dimension
In der Schlacht um Debalzewe wurden weder von ukrainischer noch von pro-russischer Seite Luftunterstützungsmittel in entscheidender Form zum Einsatz gebracht. Politisches Kalkül sowie der Einsatz von bodengebundenen Luftabwehrsystemen im Donbas ab dem Herbst 2014 durch beide Konfliktseiten verhinderten beinahe gänzlich den Einsatz von Luftfahrzeugen. Russische Luftstreit- und Heeresfliegerkräfte wurden in diesem hybriden Konflikt vorwiegend aus politisch-strategischen Überlegungen nicht zum Einsatz gebracht, weil damit eine augenscheinliche russische Einmischung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Intervention der NATO bzw. der USA nach sich gezogen hätte. Aus Sicht der Ukraine verwehrte die sowohl in der Ostukraine als auch im Grenzgebiet eingesetzte mutmaßlich russische Luftabwehr (von SA-11 über „Panzir" S1 [NATO-Codename SA-22 GREYHOUND] bis zu MANPADS/Man Portable Air Defence System) den Einsatz der eigenen Luftwaffe (wie SU-25) bzw. Heeresfliegerkräfte (wie Mi-24). Der Luftraum über dem Kampfgebiet bleibt letztlich den UAV vorbehalten, die – wenn auch unverhältnismäßig – auf beiden Seiten zur Aufklärung und Überwachung zum Einsatz gebracht wurden.
Durch den Wegfall der Luftunterstützung als primäres Mittel der Kampfunterstützung wurde der Artillerie die Rolle als „Wegbereiter" der Kampftruppe zuteil. Schwächen der ukrainischen Artillerie in Quantität und Qualität traten damit in der Schlacht um Debalzewe verstärkt zutage.
Kampf im elektromagnetischen Spektrum
Der elektronische Kampf war ein zentraler Bestandteil auf dem Gefechtsfeld im Donbas: „If you emit, you can be hit" (Wenn sie senden, können sie getroffen werden). Als wesentliche Erkenntnis lässt sich festhalten, dass die zunehmende Digitalisierung die Verbände vor neue Herausforderungen stellte: Der ständige elektromagnetische Signaturausstoß ermöglichte die Aufklärung von Einsatzsystemen über das elektromagnetische Spektrum und damit eine punktgenaue kinetische bzw. nicht kinetische Bewirkung. Vor allem ortsfeste Führungseinrichtungen sowie Waffensysteme mit hohem Datenaustausch (wie Artillerie oder Fliegerabwehr) waren anhaltend bedroht. Neben der Suche nach technischen Lösungen ist daher künftig das gefechtstechnisch richtige Verhalten auf dem Gefechtsfeld (wieder) erforderlich: Auflockerung, Beweglichkeit, Redimensionierung der Führungseinrichtungen sowie Minimierung und Schutz der eigenen Abstrahlungssignatur. Eine zunehmende eigene Digitalisierung macht künftig nur Sinn, wenn sie mit einem entsprechenden Schutz und der Absicherung der Kommunikationsnetze einhergeht.
Fazit
Die Schlacht um Debalzewe war nicht die „spektakulärste" Schlacht der Kriegsgeschichte. Sie offenbarte auch keine bahnbrechenden Neuerungen auf dem Gebiet der Kriegsführung. Dennoch gilt sie als „Richtgröße" der Entwicklungen in der Taktik und im Kampf der verbundenen Waffen in der für das 21. Jahrhundert charakteristischen hybriden Konfliktaustragung. „Altbewährtes" der Taktik wurde mit „neuen" technischen Mitteln ergänzt und unter Berücksichtigung des politisch-strategischen Kontextes zur Anwendung gebracht. Eine konventionelle Konfrontation zwischen Landstreitkräften ist in Zukunft als wahrscheinlicher zu beurteilen, als dies noch vor zehn Jahren denkbar war. Hybrid agieren bedeutet neben Informationskriegsführung, wirtschaftlichen Sanktionen und politischer Einflussnahme letztlich auch den Einsatz militärischer Durchsetzungsstärke. Der konventionelle Kampf muss daher als Kernfähigkeit jeder Streitkraft erhalten bleiben, ausrüstungstechnisch ermöglicht, doktrinär abgebildet und im erforderlichen Maß geübt werden. In den ukrainischen Streitkräften war dies 2014 und 2015 nicht der Fall – mit fatalen Folgen.
Oberstleutnant dG Mag.(FH) Mag. Jürgen Scherl; Referatsleiter (m.d.F.b.), Hauptlehroffizier & Forscher Referat Taktik/Institut für Höhere Militärische Führung an der LVAk Major dG Mag.(FH) Alexander Böhm; Hauptlehroffizier & Forscher Referat Taktik/Institut für Höhere Militärische Führung an der LVAk