- Veröffentlichungsdatum : 03.11.2022
- – Letztes Update : 02.11.2022
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"Wir schlittern in einen neuen Kalten Krieg"
Russland hat aus seinen Fehlern in den ersten Kriegswochen gelernt und zuletzt große Gebiete eingenommen. Ein nahes Kriegsende ist dennoch nicht realistisch. Wie sich der Ukraine-Krieg entwickeln kann, analysiert Brigadier Philipp Eder im Gespräch mit TRUPPENDIENST-Redakteurin Anna Hlawatsch.
TRUPPENDIENST (TD): Herr Brigadier, hat die russische Armee aus ihren Fehlern zu Kriegsbeginn gelernt?
Philipp Eder: Die Vorstellung, die die russische Armee zu Beginn des Krieges präsentiert hat, war für viele Beobachter überraschend. Auch Russland musste erkennen, dass es die Situation stark unterschätzt hatte. Gleichzeitig musste sich der Kreml eingestehen, dass die Armee für das, was von ihr erwartet wurde, nicht ausgelegt war. Ihre Kampfkraft ist nicht mit jener der Sowjet-Armee gleichzusetzen. Schlechter finanziert und von Korruption durchzogen, ist sie eher ein Überbleibsel der alten Größe. Hinzu kommt, dass die russische Armee, wie viele andere auch, eine Friedensarmee ist. Viele Soldaten erleben in der Ukraine zum ersten Mal den Kriegszustand.
Dennoch hat es Russland innerhalb weniger Monate durch eine Änderung zu einer begrenzteren Operationsführung geschafft, Fehlerquellen des ursprünglichen Operationsplanes zu vermeiden und Schwächen zu kaschieren. Besonders deutlich wird das bei der verbesserten Drohnenabwehr. Die Versorgungskontinuität ist ebenfalls besser als noch vor wenigen Monaten. Mit dem langsamen Vorstoßen in kleinere Gebiete im Osten unter Einsatz von Artillerie und Luftunterstützung und dem Nachrücken der Infanterie, ist die Russische Föderation erfolgreich. Die ukrainische Armee muss nun versuchen, die Initiative in Regionen außerhalb des russischen Schwergewichtes zurückzugewinnen. Idealerweise werden so neue Schwächen Russlands offenbart, die zu größeren strategischen Fehlern führen könnten, weil die russische Armee auf diese nicht vorbereitet ist.
TD: Welche strategischen Ziele könnte die Ukraine für diesen Eroberungszug wählen?
Eder: Eine Rückeroberung von Territorium ist vor allem in den ersten Tagen nach der Einnahme des Gebietes möglich. In der Regel ist der Gegner in seiner Verteidigung noch nicht organisiert genug, um einen Angriff abzuwehren. Umso länger jedoch ein Territorium in der Hand des Gegners ist, umso schwieriger wird es, dieses zurückzuerobern. Russland ist es in den vergangenen Monaten gelungen, eine sehr starke Front im Osten der Ukraine aufzubauen. Die Ukraine hätte also am ehesten im Süden die Möglichkeit gehabt, in besetzte Gebiete vorzudringen.
Das haben die Truppen auch versucht und teilweise geringe Geländegewinne erzielt. Die inzwischen gestärkte Kampfkraft Russlands durch entsprechende Verteidigungsvorbereitungen wird aber die Rückeroberung der eingenommenen Gebiete im Süden in einem größeren Rahmen zu verhindern wissen.
TD: Kiew glaubt an ein baldiges Kriegsende. Ist das realistisch?
Eder: Die Konfliktparteien liegen in ihren Zielsetzungen so weit auseinander, dass eine baldige Beendigung des Krieges, vor allem zugunsten der Ukraine, nicht realistisch ist. Dafür müsste die Ukraine deutlich mehr Gebiete zurückerobern oder noch mehr Territorium verlieren, sodass dann ebenfalls der Krieg entschieden wäre. Ich glaube, dass der Kriegszustand noch lange andauern wird.
TD: Wie wird der Krieg weitergehen?
Eder: Das kurzfristige Ziel der Russischen Föderation ist es, die beiden aus Sicht der Ukraine abtrünnigen Gebiete Luhansk und Donezk einzunehmen. Luhansk haben sie bereits erobert, der zweite Oblast wird voraussichtlich in den kommenden Wochen oder Monaten an Russland fallen. Danach wird die Russische Föderation die vorhandene Kampfkraft der eigenen, aber auch der ukrainischen Truppen beurteilen. Das nächste Ziel könnte das von Präsident Putin 2014 als „Neurussland“ bezeichnete Gebiet sein. Dieses verläuft von Charkiw im Nordosten über die beiden genannten Oblasten Richtung Süden über Mariupol und Cherson zur strategisch wichtigen Hafenstadt Odessa und inkludiert die Halbinsel Krim.
TD: Kann die Ukraine auch in Zukunft mit Waffenlieferungen aus dem Westen rechnen?
Eder: Bereits jetzt wird aus Sicht der Ukrainer zu wenig Unterstützung zugesagt. Denn der Bedarf der ukrainischen Armee an Waffenlieferungen, Munition, Betriebsmitteln und Treibstoff ist bei weitem höher, als die westlichen Staaten liefern. Aufgrund der Konzentration auf den Osten ist die russische Armee dort der Ukraine deutlich überlegen. Um diese Diskrepanz auszugleichen, müsste die ukrainische Armee über mindestens genauso viele Geschütze verfügen wie die russische Armee. Einige westliche Länder müssten jedoch ihre eigene Verteidigungsstärke gefährden, um die Ukraine weiter beliefern zu können. In diesem Abnützungskrieg spielt die Zeit für die Russische Föderation.
TD: Hat sich die Sicht auf den ukrainischen Präsidenten im Kriegsverlauf geändert?
Eder: Sowohl in der Ukraine als auch im Westen wird Selenskyj nach wie vor als Führungsperson anerkannt. Die kürzlichen Personalveränderungen im Geheimdienst untermauern seine Position. In Zukunft könnte es für ihn aber immer schwieriger werden, eine Kriegsmüdigkeit bei der ukrainischen Bevölkerung und im Westen zu verhindern.
TD: Wie könnte in Zukunft eine Nachbarschaft zwischen Russland und der Ukraine aussehen?
Eder: Eine freundschaftliche oder friedliche Nachbarschaft scheint in Anbetracht der Gräueltaten im Kriegsverlauf äußerst unrealistisch. Ich glaube, dass Russland tiefe Narben bei seinem einstigen Bruderstaat hinterlassen hat und sich die Ukraine noch mehr dem Westen zuwenden wird.
TD: Wird sich Russland für diese Kriegsverbrechen verantworten müssen? Welche Strafe könnte das nach sich ziehen?
Eder: Eine Aufarbeitung wird es sicherlich auf ukrainischer Seite oder auch auf internationaler Ebene geben. In Russland ist dahingehend nichts bemerkbar. Vermutlich wird irgendwann bekannt, dass auch auf Seite der Ukraine Kriegsverbrechen begangen wurden. Wenn nicht, wäre es der erste Krieg, in dem das nur einseitig geschehen wäre. Die Gefahr besteht, dass die russischen Verantwortlichen nur in Abwesenheit verurteilt werden. Eine Auslieferung von russischen Bürgern an den Strafgerichtshof in Den Haag ist unrealistisch. Zumal der russische Präsident z. B. erst kürzlich in westlicher oder ukrainischer Kritik stehende Truppen ausgezeichnet hat. Die Verurteilung eines jungen russischen Soldaten wegen der Ermordung eines ukrainischen Zivilisten wird daher eher die Ausnahme bleiben, da dieser in der Ukraine gefasst wurde.
TD: Wie steht es um die Beziehung zwischen Ost und West?
Eder: Die Beziehung galt schon vor dem Ukraine-Krieg seit einigen Jahren als angespannt und ist von großem Misstrauen getragen. Der Zustand hat sich in den vergangenen Monaten nicht verbessert. Russland konzentriert sich militärisch zurzeit auf die Ukraine, wird sich aber in der Zukunft wieder mehr dem Westen zuwenden. Das kürzlich auf dem Gipfel beschlossene Vorhaben der NATO, die Ostflanke mit Truppen zu verstärken, wird zu einer Gegenreaktion Russlands führen. Ich fürchte, dass das Verhältnis zwischen Ost und West durch den Ukraine-Krieg so nachhaltig gestört wurde, dass wir in einen neuen Kalten Krieg schlittern. Derzeit finden keine vertrauensbildenden Maßnahmen statt, und ich weiß auch nicht, wie diese in Zukunft unter der Regierung Putins aussehen könnten.
TD: Ist bereits ein Wettrüsten sichtbar?
Eder: Die NATO wird u. a. versuchen, der Bedrohung durch russische Raketensysteme und Nuklearwaffen entsprechend zu begegnen. Deutschland hat bereits laut über ein europäisches Raketenabwehrsystem nachgedacht. All diese Überlegungen werden auf der russischen Seite zu einer Gegenreaktion führen. Durch die Aufnahme von Schweden und Finnland ist die Ostsee zu einem Binnenmeer für die NATO geworden. Die Russische Föderation wird darauf im Bereich der Seestreitkräfte reagieren müssen. Aufgrund der Einnahme wichtiger Hafenstädte in der Ukraine haben die russischen Streitkräfte nun einen höheren Bedarf, diese auch verteidigen zu können.
Im Bereich der Luftstreitkräfte sind Erneuerungen der nukleartragenden Systeme wahrscheinlich. Die Stationierung von mehr US-Systemen in Europa wird in Russland zu Gegenreaktionen führen. Der erwähnte NATO-Beschluss, dass mehr Bodentruppen in Europa eingesetzt werden sollen, wird ebenfalls zu einer Gegenbewegung Russlands führen. All diese Reaktionen tragen zu einer weiteren Destabilisierung bei.
TD: Zu Beginn des Krieges war häufig von Massenprotesten in Russland zu lesen, diese scheinen zumindest medial vorbei zu sein. Trägt die russische Bevölkerung den Krieg nun mit?
Eder: Dem russischen Regime scheint derzeit keine Gefahr im eigenen Land zu drohen. Zwar protestiert ein Teil der russischen Bevölkerung nach wie vor gegen den Krieg, das passiert jedoch unterschwellig. Auch, weil gegen jede Art von Protest hart vorgegangen wird. Hinzu kommt, dass prominente Kritiker zu langen Haftstrafen verurteilt und ihre politischen Strukturen zerschlagen wurden. Als Folge resigniert die Mehrheit der Bevölkerung. Dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine personell auf einem Freiwilligenprinzip basiert und Russland derzeit keine Mobilmachung anstrebt, tut sein Übriges. Für eine Volksbewegung bräuchte es mehr Momentum, das ist derzeit nicht erkennbar.
TD: Wie steht es um den EU-Status und die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?
Eder: Solange – und vermutlich ist das ein Kalkül der russischen Führung – die Ukraine im Kriegszustand verbleibt, wird es keinen EU- oder NATO-Beitritt geben. Eine mutigere europäische Politik könnte die Ukraine prinzipiell sofort in die EU aufnehmen, das wird jedoch nicht passieren. Zum einen, weil der Westen Putins Reaktion fürchtet und nach wie vor von Russland energieabhängig ist. Zum anderen, weil es andere EU-Beitrittsländer gibt, die derzeit mehr Voraussetzungen erfüllen als die Ukraine.
TD: Wie könnte die Ukraine in Zukunft aussehen?
Eder: Hierzu gibt es verschiedene Szenarien. Das für die Ukraine positivste Szenario wäre, dass es militärisch oder diplomatisch gelingen würde, den Ursprungszustand vor der Invasion der Krim 2014 wiederherzustellen. Die Krim und die beiden abtrünnigen Oblaste wären wieder in ukrainischer Hand, so wie einst im Budapester Memorandum festgehalten. Das ist jedoch ein unwahrscheinliches Szenario.
Das ungünstigste Szenario für die Ukraine ist, dass die eigene Widerstandsfähigkeit erlahmt und es Russland gelingt, die Dnepr-Linie inklusive Kiew einzunehmen. Die aktuelle ukrainische Regierung würde dann durch eine russland-freundliche ausgetauscht und die Ukraine fortan ein russischer Vasallenstaat.
Es besteht auch die Möglichkeit der Teilung der Ukraine wie einst Deutschland, sprich in eine Ost- und eine Westukraine. Oder es kommt zur Akzeptanz der Ukraine, dass wesentliche Teile des Landes, vor allem in der Süd- und Ostukraine, an Russland verloren sind. Sollte Russland daraufhin einem Waffenstillstand zustimmen, könnte eine diplomatische Lösung gefunden werden. Ich denke, dass es der Ukraine nicht gelingen wird, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern.
TD: Steht uns – aus ökonomischer Sicht – ein „Kriegswinter“ bevor?
Eder: Den Ukrainern auf jeden Fall. Die Bevölkerung leidet nicht nur aufgrund des Krieges, sondern auch, weil Teile der Energiebereitstellung des Landes bereits in russischer Hand sind. Was Zentral- und Westeuropa betrifft, bin ich optimistisch. Ich denke, dass wir mit einigen Einschränkungen über den Winter kommen werden. Wahrscheinlich werden in der Industrie einige Abschläge gemacht, was natürlich in vielerlei Hinsicht unangenehm ist. Europäisch betrachtet, gibt es zudem eine Solidaritätsklausel, die die Energieversorgung gemeinschaftlich regelt. Ich bezweifle also, dass die Wohnzimmer kalt bleiben und die Arbeitslosigkeit schmerzhaft in die Höhe steigen wird. Was ich jedoch vermisse, ist das Energiesparen. Ich denke, dass jeder von uns im Hinblick auf den Herbst und Winter noch mehr dazu aufgerufen ist.
TD: Werden weitere Staaten der NATO beitreten? Welche Schlüsse lassen sich für Österreich ziehen?
Eder: Der Ukraine-Krieg hat sicherlich zur Erkenntnis beigetragen, dass Europa in Zukunft nicht von Kriegen verschont bleiben wird. Als Reaktion haben bereits einige Staaten damit begonnen, ihre Streitkräfte nachzurüsten oder in Bündnisse einzutreten. Nach Schweden und Finnland könnte auch Irland in die NATO gehen. Österreich muss erkennen, dass wir aufgrund unserer immerwährenden Neutralität in der Lage sein müssen, uns selbst zu verteidigen. Mir fehlt aber die Diskussion darüber, dass sich die sicherheitspolitische Situation in den vergangenen Jahren, speziell durch das Verhalten Russlands, verändert hat, und was das für Österreich bedeutet und wie man dieser Situation in Zukunft am besten begegnen möchte.
Mag. Anna Hlawatsch; Redakteurin beim TRUPPENDIENST.