Zehn Gründe, „unter die Erde“ zu gehen
Das urbane Umfeld wächst immer stärker und in alle Richtungen – der Größe nach, nach oben und intensiv auch unter der Erdoberfläche. Unterirdische Serviceinfrastrukturen müssen als integraler Bestandteil dieses Einsatzraumes betrachtet werden. Aus diesem Grund beschäftigt sich im Bundesheer seit 2018 eine kleine Gruppe von Experten – die Forschungsgruppe NIKE – mit diesem besonderen Einsatzumfeld. Dem Blick entzogen warten unter Tage extreme Herausforderungen auf die Einsatzkräfte, die ohne gezielte Ausbildung, Ausrüstung und Führung nicht erfolgreich bewältigt werden können. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist dringend erforderlich und es gibt zehn Gründe, warum sich das Bundesheer dieser Herausforderung stellen und auf untertägige Einsätze vorbereiten sollte. Ein hybrider Angreifer wird auch die Infrastruktur ins Visier nehmen. Dabei ist jene für ihn von besonderem Interesse, die von vielen Menschen genützt wird und deren Ausfall einen großen Schaden nach sich zieht. Der Ausfall essenzieller Funktionen wie Licht und Lüftung, Gefährdungen aus allen Richtungen durch einen initiativ agierenden Gegner mit technischen und örtlichen Kenntnissen und die spezifischen Umfeldbedingungen können unter Tage eine ungeahnte Komplexität schaffen. Im Vergleich zu punktuellen Szenarien mit Fokus auf Hilfeleistung oder Bedrohung verlängert sich die Einsatzdauer und die logistischen Anforderungen sind wesentlich höher.
Der untertägige Einsatzraum bietet dem Gegner Schutz vor Beobachtung sowie Wirkung und ermöglicht unerkannte Bewegungen. Je größer die eigene technische Überlegenheit an der Erdoberfläche (zum Beispiel durch den Einsatz von Drohnen), umso größer sein Drang in den Untergrund. Die Einsatzkräfte sind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert: Eingestürzte Gebäude, unzureichende Lüftung, gefährliche Stoffe und Gase, eindringendes Wasser, die Auswirkungen von Waffen und Kampfmitteln – all diese Faktoren wirken sich unter Tage anders aus als an der Oberfläche und bedeuten eine massive Gefährdung. Das Bundesheer ist auf dieses Einsatzumfeld nicht vorbereitet. Bisherige Ausarbeitungen zu diesem Thema sind oberflächlich und füllen in Dienstvorschriften nur zehn Seiten. Auf dieser Grundlage kann kein Einsatz von Soldaten erfolgen, da diese die bestmögliche Vorbereitung auf mögliche Einsätze benötigen. Das Beherrschen dieses herausfordernden Einsatzumfeldes erfordert spezifisches Wissen und umfassende Fähigkeiten.
Der Soldat braucht spezielle Ausrüstung, um überleben zu können – erst danach ist an Schutz und Hilfe für Andere zu denken. Das erfolgreiche Bewältigen komplexer Einsätze unter Tage erfordert ein breites Spektrum an Wissen und die Verfügbarkeit eines agilen und integrativen Führungsunterstützungssystems. Bei einem Szenario unter Tage ist mit einer großen Zahl unvorbereiteter Menschen zu rechnen, die sich – beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit oder in die Schule – im Untertagebauwerk aufhalten. Die mögliche Anzahl ziviler Opfer lässt kein Aussitzen des Problems an den Tunneleingängen zu. Derartige Lagen erfordern zwingend die Zusammenarbeit mit anderen Einsatzkräften und Anlagenbetreibern, die gemeinsame Vorbereitung darauf braucht Zeit. Für das Herstellen der Befähigung einer Bataillonskampfgruppe zum Einsatz unter Tage sind etwa zwei Jahre zu veranschlagen. Das Bundesheer kann als einziger staatlicher Akteur, aufgrund seiner Größe und seines Grundauftrages, alle erforderlichen Fähigkeiten bereitstellen und sich darauf vorbereiten.
Die Fähigkeit zum Bewältigen komplexer Einsätze unter Tage ist ein aktiver und wirkungsvoller Beitrag des Bundesheeres im gesamtstaatlichen Engagement gegen aktuelle Bedrohungen. Auch im internationalen Umfeld unternehmen Streitkräfte erhebliche Anstrengungen zum Aufbau dieser Fähigkeiten. Die Experten der Forschungsgruppe NIKE sind sich einig, dass das Eintreten eines komplexen Szenarios unter Tage keine Frage des Ob, sondern eine Frage des Wann ist. Die Vorbereitung auf derartige Herausforderungen benötigt Zeit und erfordert das interdisziplinäre Zusammenwirken vieler Experten. Das Bereitstellen der dafür erforderlichen Spezialisten und deren ausbildungs- und ausrüstungsmäßige Spezialisierung kosten aber wesentlich weniger als der durch ein solches Ereignis entstehende Schaden an Personal, Material und Infrastruktur.
Oberst dG Mag. Dr. Peter Hofer; Leiter des Instituts für Offiziersweiterbildung an der Theresianischen Militärakademie